Ukraine
Unterwegs im zweitgrößten Land Europas
Geschichte der Ukraine
Eine apokalyptische Welt in fahlen Grau-, Grün- und Blautönen empfängt den Spieler des Online-Ego-Shooters "Call of Duty 4" auf seiner Mission im 21. Jahrhundert: Verfallende realsozialistische Plattenbauten, poröser Beton, verwüstete Wohnungen. Außer Kontrolle geratene Vegetation überwuchert die Hinterlassenschaften einer scheinbar untergegangenen Zivilisation.
Im Hintergrund erhebt sich die Silhouette eines Riesenrades, an den Wiener Prater oder den Berliner Weihnachtsmarkt erinnernd. Kyrillische Buchstaben krönen bröckelnde Fassaden. Ein Schwimmbad mit zertrümmerter Fensterfront lädt zum virtuellen Streifzug durch verlassene Umkleideräume, geplünderte Duschen, zum Hinabsteigen in das wasserlose Becken.
Die gleiche Szenerie findet sich auch in einer weiteren Ego- Shooter- Familie namens "S.T.A.L.K.E.R.: Shadow of Chernobyl" und "S.T.A.L.K.E.R.: Call of Pripyat", die an die düstere Szenerie des gleichnamigen Films von Regisseur Andrej Tarkowski angelehnt sind.
Was hier scheinbar der Fantasie von Spieldesignern und Programmierern entsprang, ist Realität. Sie findet sich in einer Zone von 30 Kilometern um die Reaktoranlage von Tschernobyl in der Nordukraine, nahe der Grenze zu Weißrussland. Ein Vierteljahrhundert ist es her, dass sich das Riesenrad im Vergnügungspark der Stadt Prypjat noch drehte, deren Einwohner im Schwimmbad ihre Runden zogen. Dann ging alles sehr schnell.
Ein Test, der eigentlich schon vor Inbetriebnahme des Reaktors hätte gemacht werden müssen, läuft aus dem Ruder. Dazu kommen Bedien- und Konstruktionsfehler. Als Schichtleiter Aleksandr Akimow am 26. April 1986 um 1:23 Uhr morgens den Havarieschutz einschaltet, ist es bereits zu spät.
Mehrere Explosionen sprengen den über 1000 Tonnen wiegenden Schutzdeckel über den Brennstäben, zerstören das Dach des Reaktors 4. Das Graphit im Kern, wichtig für die Aufrechterhaltung des nuklearen Prozesses, fängt Feuer. Radioaktive Wolken steigen in die Atmosphäre, die der Wind in den nächsten Tagen über weite Teile Europas tragen wird. Am Morgen gelingt es der Werksfeuerwehr, die Brände außerhalb des Reaktors zu löschen. Da wissen die beteiligten Männer noch nicht, dass sie chancenlose Todeskandidaten sind.
Nachmittags macht Fotograf Anatoli Rasskasow die ersten Aufnahmen vom Katastrophenreaktor. Ein großer Teil seiner Filme ist von der Strahlung vollkommen geschwärzt.
Erst einen weiteren Tag später, am 27. April erkennt man langsam die Tragweite der Katastrophe. Prypjat (fast 50 000 Einwohner) wird vollständig evakuiert. Gut 1800 Mal ziehen Hubschrauber über der bizarren Ruine des vierten Reaktors vom Tschernobyler AKW ihre Kreise, um diesen unter einer Schicht aus Schutt und Erde zu begraben.
Freiwillige in minimaler Schutzausrüstung, sogenannte Liquidatoren, reinigen die benachbarten Gebäude vom strahlenden Explosionsmaterial, das dort herabregnete. Dabei werden auch sie enormen Mengen Radioaktivität ausgesetzt, die bei ihnen bis heute zu schweren Krebserkrankungen mit Todesfolge führen, welche aufgrund der prekären wirtschaftlichen Situation dieser heutigen Pensionäre kaum geheilt oder wenigstens erleichtert werden können.
In der Sowjetunion, in der Welt, ahnt am 27. April 1986 niemand etwas von dem längst unumkehrbaren Unheil. Während Akimow gegenüber der Kraftwerksleitung und diese dann auch gegenüber der Moskauer Zentrale das gesamte Ausmaß der Geschehnisse zu verschleiern versucht, wird man am 28. April im schwedischen Kernkraftwerk Forsmark, 1200 km vom GAU in der Ukraine entfernt, auf verstärkte Strahlenwerte aufmerksam. Schnell stellen die Schweden fest, dass nicht sie die Verursacher sind, sondern die Quelle weit entfernt im Süden, jenseits der Ostsee liegen muss.
Erst jetzt brechen die sowjetischen Behörden ihr Schweigen. Die Nachrichtenagentur TASS vermeldet am späten Abend einen Unfall im Kernkraftwerk von Tschernobyl. Aber noch einen Tag später, auf einer nichtöffentlichen Sitzung des ZK der KPdSU, unterbreitet Gorbatschow Vorschläge, wie der volle Umfang der Katastrophe wenigstens teilweise vertuscht werden könnte. Erst am 5. Mai tritt der Generalsekretär mit einer Erklärung zu den Vorgängen im Fernsehen auf.
In mehreren Schüben erreichen Wolken mit radioaktivem Jod und Cäsium große Teile Europas, gelangen über die Niederschläge in den Boden und die Nahrungsketten. Besonders betroffen ist in Deutschland der Südosten Bayerns. Noch heute werden dort bei Waldfrüchten und Wild zehnmal höhere Strahlenbelastungen festgestellt als in den nördlichen Bundesländern.
Am größten waren aber natürlich die Auswirkungen in der Sowjetunion bzw. deren Nachfolgestaaten. Von 134 Beschäftigten des AKW Tschernobyl und dessen Werksfeuerwehr, bei denen eine akute Strahlenkrankheit diagnostiziert wurde, starben noch im laufenden Jahr 1986 28 Menschen. Auf gut 4.000 schätzt man die Zahl der Strahlentoten in den direkt betroffenen Regionen Weißrusslands, der Ukraine und der Russischen Föderation. Dazu kommt eine erhöhte Krebsrate, Missbildungen bei Neugeborene und weitere gesundheitliche Schäden, die sich nicht immer sicher mit dem Reaktorunfall in Verbindung bringen lassen.
Die Sperrzone um das Kraftwerk umfasst mit 4.300 km² fast das Fünffache der Fläche Berlins. Weitere 15.000 km² - ein Gebiet von der Ausdehnung Schleswig-Holsteins – kann wegen der starken Kontamination weder land- noch forstwirtschaftlich genutzt werden. Gut 360.000 Menschen wurden umgesiedelt. Was dies in den Zeiten des rapide fortschreitenden Verfalls der sowjetischen Gesellschaft am Ende der 80er Jahre und des nachfolgenden fast völligen Zusammenbruchs für jeden Einzelnen von ihnen bedeutete, mag man sich kaum vorstellen.
Fast als Ironie der Geschichte erscheint es, wenn gut 25 Jahre später die Riesenwelle eines Tsunamis erneut eine atomare Katastrophe auslöst. Der Name Fukushima ist nun Dritter in der Reihe bekannt gewordene großer Unfälle in Nuklearanlagen, die mit Harrisburg im US-Bundesstaat Pennsylvania begann. Und wieder spielt auch menschliches Versagen eine Rolle, Korruption und Nachlässigkeit von Seiten der Betreiberfirma TEPCO, eine undurchsichtige Informationspolitik, die mehr verschleiert als offen legt.
Die Folgen des Unglücks für den Nordosten Japans sind noch nicht absehbar. Im Gegensatz dazu hat Fukushima der deutschen Innenpolitik bereits einen unübersehbaren Stempel aufgedrückt wie einst Tschernobyl ein Vierteljahrhundert zuvor.
Damals drang die Erkenntnis des Risikopotentials auch einer friedlichen Nutzung der Kernenergie in das Bewusstsein weiter Teile der Bevölkerung. Außer der zu dieser Zeit noch jungen Exotenpartei "Die Grünen" befassten sich nun auch CDU, SPD und FDP mit der Zukunft der Kernkraftwerke. Das Wort von der "Übergangsenergie", heute mutiert zur "Brückentechnologie", kam auf.
Der letzte der 4 Blöcke des AKW Tschernobyl wurde erst im Dezember 2000 stillgelegt. Den havarierten Block 4 und die Reste des strahlenden Materials umschließt heute ein langsam marode werdender sogenannter Sarkophag aus Beton, der in naher Zukunft von einem zusätzlichen Mantel verstärkt werden soll.
Um die 1.000 Evakuierte aus der Sperrzone sind trotz der Gefahren in ihre Häuser zurückgekehrt. Auch das Dorf Tschernobyl ist wieder bewohnt. Seit 2001 finden in der dem Heiligen Ilja geweihten Kirche wieder sonntägliche Gottesdienste statt.
Noch immer gehören die Städte Prypjat und Tschernobyl, sowie das Atomkraftwerk und ein Sicherheitskordon um das verstrahlte Gebiet zu einer für die Öffentlichkeit gesperrten Zone. Zu dieser Sperrzone gehören außerdem interessante Orte wie das Überhorizontradar DUGA, ein militärisches Fossil aus Sowjetzeiten, und der verlassene Kindergarten in Kopatschy.
Für den Eintritt in die Zone muss ein Antrag gestellt und von den Behörden genehmigt werden. Dann erst darf man die verschiedenen Kontrollposten auf dem Weg nach Tschernobyl passieren, nicht ohne eine ausführliche Sicherheitsbelehrung über die DOs and DONTs in der Sperrzone. Am letzten Kontrollpunkt wird dem Besucher ein obligatorischer Guide zugewiesen, es gibt darunter mehrere englisch- und französischsprachige Begleiter. Wer einen deutschen Reiseführer auf seiner Tour dabeihaben möchte, dem können wir seinen Wunsch erfüllen.
Wenn man sich auf den vorgeschriebenen Wegen bewegt, die als strahlungstechnisch unbedenklich klassifiziert wurden, besteht keine Gefahr für Gesundheit und Leben. Zusatzausrüstung wie Geigerzähler sind praktisch aber nicht notwendig. Mehr Augenmerk sollte man auf wetterangepasste Kleidung und stabiles Schuhwerk legen. Wer sich die Frage stellt, ob man auf der Tour eher alte Klamotten anziehen soll, die man nachher wegwerfen kann, der sollte sich darüber im Klaren sein, dass unter den alten Sachen ja der eigene Körper steckt und genauso durchstrahlt wird wie die Kleidung. Leider kann man den nicht so einfach wegwerfen ...
In der Zone selbst gibt es zwei Unterkünfte, in denen interessierte Reisende bei mehrtägigen Aufenthalten in der Sperrzone unterkommen können.
Weicht man von den freigegebenen Wegen ab und begibt sich zum Beispiel in den Roten Wald, kann man zum Teil beträchtliche Mengen an Strahlung aufnehmen, was erhebliche Gesundheitsgefahren birgt und für große Probleme beim Verlassen der Sperrzone führen kann. Aufgrund der ungleichmäßigen Verteilung der Strahlung in der Sperrzone sollte man außerdem keine Früchte, Pilze, Wildfleisch u.ä. aus der Sperrzone zu sich nehmen. Sämtliche Speisen und Getränke der öffentlichen Restaurants und Versorgungsstätten in der Zone werden in Kiew und anderen Orten außerhalb der Zone beschafft. Das führt natürlich zu erhöhten Einkaufskosten, die sich dann im Preis niederschlagen.
Derzeit ist international eine große Diskussion über neue Sicherheitsbedenken in Gang. Wissenschaftler stellten in den vergangenen Jahren fest, dass das Laub der Waldbäume und anderer Pflanzen nicht wie normal verrottet, sondern (vermutlich aufgrund des strahlungsbedingten Rückgangs der zersetzenden Insekten und Bakterien) liegen bleibt und weiterhin Strahlung absorbiert. Es wächst die Befürchtung, dass bei einem Waldbrand all diese absorbierte Strahlung aufgewirbelt wird und zu einer neuen atomaren Katastrophe in dem Gebiet führen kann.
Zu den meistbesuchten Orten in der Sperrzone um Tschernobyl gehört natürlich der havarierte Reaktor 4, der in naher Zukunft mit einem zweiten Sarkophag überdeckt und dann nahezu unsichtbar wird. Die Reaktoren 1-3 laufen nach ihrer Stilllegung bis zum endgültigen Erkalten aus, dafür wohnen in der Stadt Tschernobyl heute wieder mehrere tausend Werksarbeiter, mit denen Sie gemeinsam in der Werkskantine zu Mittag essen können. Eindrucksvoll sind auch die Anlagen der nicht vollendeten Reaktorblöcke 5 und 6. Weiterhin sehenswert in Tschernobyl sind der Gedenkkomplex, die Sankt Ilja Kirche und das Denkmal "denen, die die Welt retteten".
Daneben gehört die Stadt Prypjat zu den Höhepunkten einer Tschernobyl- Expedition. Zu den als Fotomotive geeigneten, zugänglichen Gebäuden in Prypjat zählen u.a. der Kulturpalast, das Hotel Polyssia, der Supermarkt der Stadt, das Riesenrad, das Sportstadium, Schule und Schwimmhalle, sowie das Krankenhaus.
Wer sich ein Bild über die aktuellen Lebensbedingungen der illegalen Rückkehrer in die Sperrzone ein Bild machen kann, kann diese besuchen und mit den sogenannten " Samoseli" ins Gespräch kommen.
Aktuell gibt es mehrere Anbieter für ein- und mehrtägige Touren in die Sperrzone von Tschernobyl. Wir bieten diese Ausflüge wahlweise in englischsprachigen Gruppen oder individuell mit deutschsprachigem Reiseführer an.
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