Belarus
Auf ins Unbekannte!
Ein Naturparadies entsteht
Tschernobyl – dieses für viele Osteuropäer grauenhafte Wort – ist im Bewusstsein der Westeuropäer inzwischen zum Kennzeichen der Region östlich von Polen geworden. Die Ukraine und Belarus waren von den Folgen der Reaktorkatastrophe massiv betroffen. Der belarussische Süden, Polesien, leidet immer noch unter gravierenden Konsequenzen des GAU, große Territorien gehören noch heute zum Sperrgebiet. Wie geht das Land damit um? Wie sieht es dort aus?
Die Natur ist viel weiser, als wir uns vorstellen können. Wo ihr der Mensch eine Wunde schlägt, wird sie umgehend geheilt, sobald die dafür erforderlichen Bedingungen geschaffen werden. Das staatliche radioökologische Reservat Polesien ist ein markantes Beispiel dafür, was passiert, wenn die Natur diese Chance bekommt.
Was die Chance für die Natur war, war für 22.000 Menschen aus 96 Dörfern und Städtchen ein großes Leid. Tschernobyl liegt nur wenige Dutzend Kilometer von Polesien entfernt und so war die Region unmittelbar von der Strahlung betroffen. Die Menschen mussten die kontaminierten Territorien verlassen, um den gesundheitlichen Folgen der Strahlung zu entgehen. Am 18. Juli 1988, etwa 2 Jahre nach dem GAU, entstand das Reservat Polesien. Das ursprüngliche Ziel war, Forschungen durchzuführen, um herauszufinden, welche Auswirkungen die radioaktive Strahlung auf die Umwelt hatte. Doch wo der menschliche Einfluss verschwindet, entfesseln sich Naturkräfte und so wurde das Sperrgebiet zu einem einzigartigen Naturreservat, wo die biologische Umgebung sich ungestört entwickelt.
Das Territorium des Reservats Polesien besteht aus zwei Teilen. Der größte Teil ist das eigentliche Sperrgebiet, wo weder eine Besiedlung noch eine wirtschaftliche Tätigkeit erlaubt sind. Der zweite Teil wird für experimentelle Zwecke verwendet. Die technische Ausstattung ist sehr modern, was den Wissenschaftlern erlaubt, ihrer Arbeit in vollem Ausmaß nachzugehen und jeden Aspekt genau zu untersuchen. Hier werden verschiedene Nutzpflanzensorten angebaut und Pferde gezüchtet. Eine Imkerei und einen kleinen Holzbearbeitungsbetrieb gibt es auch.
Was nach viel Aktivität klingt, ist auf diesem riesigen Territorium, insbesondere in der Sperrzone kaum bemerkbar, denn die wilde Natur herrscht auf diesen 2.154 Quadratkilometern Naturreservats in all ihrer Kraft und Anmut. Wo der Mensch nicht mehr leben kann, beleben mehrere Hunderte Tier- und Pflanzenarten den Ort, wo seit 30 Jahren jegliche Menschenspuren verschwinden. Viele der im Reservat vorkommenden Arten stehen auf der Roten Liste, so zum Beispiel Wisente.
Ob und in welchem Masse der Tschernobyl-GAU Schaden an Flora und Fauna angerichtet hat, kann derzeit noch schwer durch die Wissenschaftler konstatiert werden. Oberflächlich betrachtet fühlt sich die Tier- und Pflanzenwelt gegenwärtig dort wohl, wo der Mensch noch mehrere Jahrzehnte keinen Fuß dauerhaft hinsetzen können wird. Paradox: genau das zieht viele Menschen an.
Das polesische Reservat ist nicht leicht zu betreten, ohne offizielle Erlaubnis der zuständigen Behörden ist es nicht möglich. Nichtsdestotrotz entwickelt sich auch der Tourismus. Das Naturmuseum des Naturreservates Polesien bietet eine erstaunliche Balgsammlung, außerdem werden Naturpfade geschaffen, auf denen Besucher die unberührte Natur entdecken können, ohne sie zu stören.
Verfallene Meliorationsanlagen, verlassene Äcker, Vermoorung – der ökologische Zustand des Gebiets befindet sich im ständigen Wandel und erlangt nach und nach sein Urbild zurück. Wo der Mensch fehlbar und machtlos ist, tritt die Natur auf und korrigiert die menschlichen Fehler. Vielleicht werden wir dort in vielen Jahren ein verlorenes Paradies wiederentdecken. Im Moment können wir der Entstehung eines solchen Paradieses im Naturreservat Polesien unmittelbar und staunend beiwohnen.
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