Ukraine
Unterwegs im zweitgrößten Land Europas
Konfessionen und Glaubensrichtungen der Ukraine
Dicht gedrängt, verzweifelt und weinend stehen die Einwohner der Stadt Kiew an einem Tag des Jahres 988 am Ufer des Dnepr. Das hölzerne Abbild des Gottes Perun wird aus seinem Heiligtum gerissen, an den Schwanz eines Pferdes gebunden und zum Fluss geschleift. Dort wirft man es in den Strom, wo dessen Fluten es für immer mit sich nehmen.
So befahl es Fürst Vladimir I., Großfürst der Rus, als er siegreich vom Krieg mit den Byzantinern heimkehrte. Es war ihm gelungen, deren Stadt Chersonesos auf der Krim zu erobern, dann mit den Griechen Frieden zu schließen, sich taufen zu lassen und die Schwester des Kaisers Romanos II., Anna von Byzanz zur Frau zu nehmen. Der junge Slawenstaat und Ostrom befinden sich so auf Augenhöhe. Mit der Übernahme des Christentums gehört man zum Kreis der zivilisierten Völker.
Am Tag nach der Austreibung Peruns haben die Kiewer wieder an das Ufer des Dneprs zu kommen. Bei Androhung von Strafe für das Nichterscheinen müssen sie sich nun der Taufe unterziehen. Das ist die Geburtsstunde der Russisch-Orthodoxen Kirche. Personal und Know-how kommen, wie Michail, der erste Kiewer Metropolit, vorerst vom großen Nachbarn jenseits des Schwarzen Meeres.
Das gilt auch für die Baumeister der ersten Gotteshäuser. Schon ein Jahr später beginnt man in der Stadt mit dem Bau der Zehntkirche. Bald überzieht ein Netz von imposanten Kathedralen im byzantinischen Stil dieser Zeit das große Land bis hoch nach Nowgorod. Die Verwendung gebrannter Ziegel, das Ausschmücken der Innenräume mit Mosaiken in strahlenden Farben und Gold, diese uralten Traditionen der antiken Welt, die spätantike Bildsprache, all das gelangt so in die Rus und wird dort bis auf den heutigen Tag bewahrt.
Schon in der 2. Hälfte des 11. Jahrhunderts aber setzt ein verhängnisvoller Prozess ein. Das riesige Reich zwischen Dnestr im Südwesten und Onegasee im Nordosten beginnt zu zerfallen. Tatkräftige Großfürsten wie Wladimir Monomach (1113-1125) konnten den Untergang der Kiewer Rus zwar zeitweilig aufhalten, nicht aber verhindern.
Ein Jahrhundert später waren es die Mongolen, die dem in Einzelfürstentümer zerfallenen Land den Todesstoß versetzten. In den Schlachten an den Flüssen Kalka und Sit entschied sich das Schicksal des europäischen Ostens für Jahrhunderte. 1240 gelang Batu, Enkel Tschingis-Chans, die Einnahme Kiews. Die mongolischen Truppen werden Kiew in den folgenden vier Jahrhunderten nicht mehr verlassen. Die Einwohner wurden niedergemetzelt, die Stadt niedergebrannt. Nur 200 Häuser sollen danach noch gestanden haben. Ihren Untergang fand dabei auch die Zehntkirche. Erst im 20. Jahrhundert legten sowjetische Archäologen ihre Grundmauern frei.
Bis 1299 blieb Kiew noch Sitz des Metropoliten der Russisch-Orthodoxen Kirche, die weiterhin unter dem Patriarchat Konstantinopels stand. Dann veranlasste Metropolit Maximus den Umzug nach Vladimir; 1326 ging man nach Moskau. Da neigte sich die Zeit Ostroms schon dem Ende entgegen. Mehr und mehr beschränkte sich das Territorium des ehemals gewaltigen Imperiums auf das von Mauern umschlossene Stadtgebiet Konstantinopels am Westufer des Bosporus. In Norden verstand man die Zeichen zu deuten. Im Dezember 1448 verzichtete eine Synode russischer Bischöfe bei der Wahl des "Metropoliten von Kiew und ganz Russland" auf die Zustimmung aus Byzanz. Dieses fiel nur 5 Jahre später nach harter Belagerung durch die Truppen Mehmeds II.
Im Moskowiterreich sah man die Zeit für ein eigenes Patriarchat gekommen. Zur Legitimation dieses Patriarchats werden unter anderem die Werke des früheren Erzbischofs Hilarion von Kiew ("Slovo o zakoni i blahodati", deutsch: Predigt über Recht und Gnade) herangezogen, der im 11. Jahrhundert die Kiewer Orthodoxie führte. Zar Fjodor I. wählte aus drei ihm vorgeschlagenen Kandidaten den Metropoliten Iov als ersten Patriarchen der russischen Orthodoxie. Eine ökumenische Synode in Konstantinopel bestätigte 1590 diese Wahl, legitimierte das neue Patriarchat und wies ihm den bedeutenden Rang neben den vier weiteren Patriarchaten Alexandria, Konstantinopel, Jerusalem und Antiochia an.
Diese Vorgänge sollten nicht ohne Bedeutung bleiben für die Entscheidungen einiger orthodoxer Bischöfe im Westen. Hier hat der Polnisch-Litauische Staat, die Adelsrepublik Rzeczpospolita, den Höhepunkt ihrer Macht erreicht. Der zu dieser Zeit größte Flächenstaat Europas umfasst auch Teile Weißrusslands, und der späteren Ukraine also der ehemaligen Rus – und er ist katholisch.
Schon lange ist das römische Papsttum bestrebt, die Ostkirchen, oder wenigstens Teile davon unter seine Kontrolle zu bekommen. Partiell soll das auch gelingen. Dabei erkennen die so unierten Kirchen den Heiligen Vater als Haupt der Weltchristenheit an, behalten aber ihre traditionellen Hierarchien und die Lithurgie. Rein äußerlich unterscheidet sich also orthodox-katholische von rein orthodoxer Religionsausübung kaum.
An einem derartigen Vorgehen ist natürlich König Sigismund III. von Polen, dem es um die konfessionelle Einheit seines Landes geht, interessiert. Und auch eine Reihe orthodoxer Bischöfe wissen die Vorteile einer Vereinigung ihrer Kirchen mit dem Vatikan zu schätzen. Noch unterstehen sie Konstantinopel, kämen aber bald unter das neugeschaffene Patriarchat von Moskau, eine Vorstellung, die sie nicht sonderlich zu reizen scheint. Außerdem wären sie als Unierte ihren römisch-katholischen Amtsbrüdern gleichgestellt und hätten Anspruch auf Sitze im Senat, was Macht und Einfluss bedeutet. Und so unterzeichnen schließlich 6 von ihnen 1594 den "Vertrag von Brest". Ihr Zentrum wurde Lemberg mit dem dortigen Erzbischof als Oberhaupt.
In gewisser Weise ist so die Entstehung der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche wenigstens in Teilen ein Produkt des Strebens nach Unabhängigkeit von Moskau. Deutlich wurde das dort spürbar, wo nach dem Verfall der Polnisch-Litauischen Macht Gebiete wieder unter die Herrschaft des Zaren gelangten. So verbat Zar Nikolaus I. 1839 die Unierte Kirche in Russland und zwang deren Gläubige unter die Herrschaft des Patriarchen von Moskau. In den zu Österreich-Ungarn, später Polen und der Tschechoslowakei gehörenden Regionen der Westukraine blühte das unierte Leben ungehindert und wuchs beträchtlich an.
Das änderte sich erst, als im Zuge des Vormarsches des Roten Armee 1944/45 diese Gebiete unter sowjetische Kontrolle kamen. Ganz in großrussisch-zaristischer Tradition sollten die Unierten mit den Moskauern zwangsfusioniert werden. Der Wiederstand dagegen war, wie der nationale Widerstand in der Westukraine insgesamt, groß jedoch zum Scheitern verurteilt und für seine Träger verhängnisvoll. Ein beträchtlicher Teil der Hierarchie, alle Bischöfe und zahlreiche Gläubige mussten den Weg in den Gulag antreten. Erst 1963 wurde Lembergs Erzbischof Jossyf Slipyj aus der Haft entlassen und ging ins römische Exil.
1990, im Zug des allmählichen Zerfalls der UdSSR konnte er nach Lviv (Lemberg) zurückkehren. Später, 2005, verlegte Kardinal Ljubomir Husar den Sitz des sich nun "Großerzbischof von Kiew und Halytsch" nennenden Kirchenoberhaupts in die ukrainische Hauptstadt. Bei einer Untersuchung des Razumkov Zentrums für ökonomische und politische Studien bekannten sich 5,3 % der Befragten zur Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche. Dabei ist dieser Anteil naturgemäß im westlichen Teil des Landes besonders groß.
Die Entstehung eines eigenständigen und gegenüber den anderen Orthodoxen Kirchen gleichberechtigten Moskauer Patriarchats hatte, wenn auch wohl nicht in erster Linie, die Entscheidung mehrerer orthodoxer Bischöfe für die Union mit Rom beeinflusst. Noch bedeutender waren die Auswirkungen im Innern des sich konsolidierenden und an Macht gewinnenden Russischen Reiches im 17. Jahrhundert.
Hier nämlich fühlte man sich als politischer und spiritueller Erbe Konstantinopels, als 3. Rom, und strebte innerhalb der Orthodoxen Ökumene die Führerschaft an. Um diesen Anspruch erfolgreich begründen zu können, hielt es der Moskauer Patriarch Nikon (1605-1681) für notwendig, viele traditionell russische Bestandteile der Liturgie an die gängige byzantinische Praxis anzupassen. Das mag sich theoretisch sehr einfach anhören und für uns säkulare Jetztmenschen dürfte die Frage, ob man sich mit 3 oder 5 Fingern bekreuzigt, ob das Halleluja 2 oder 3 mal zu wiederholen ist oder die Prozession dem Lauf der Sonne zu folgen oder die entgegengesetzte Richtung einzuschlagen hat, relativ gleichgültig sein. Für viele Zeitgenossen Nikons jedoch war das der absolute Schock, ein Zeichen der Wiederkunft des Antichrist, des nahenden Weltendes.
Dementsprechend groß war der Widerstand und genau so brutal die Durchsetzung der Reformen. So wird die Bojarin Feodosija Prokopevna Morozowa 1671 verhaftet und 1675 zusammen mit ihrer ebenso unbeugsamen Schwester im Borowsker Pafnuti-Kloster eingesperrt in einer Zelle dem Hungertod preisgegeben. Ein Jahr später stürmt sogar ein vom Zaren gesandtes Heer das auf dem Solowezki-Archipel gelegene Kloster, in das sich Gegner der Reform zurückgezogen hatten. Wenn es um den einzig wahren Glauben ging, war man Russland nicht weniger zimperlich als in anderen Teilen der Welt.
Tausende verlieren als Märtyrer ihr Leben, noch mehr ihre Heimat. Mit ihren Familien machen sie sich auf den Weg an die Peripherie des Reiches, dorthin wo der Arm des Zaren und des Moskauer Patriarchen sie nicht erreichen kann. Und Peripherie ist zu dieser Zeit auch noch "U kraina", das Gebiet "am Rande" des Zarenreichs.
Unter Peter dem Großen (1682-1725) verlieren die Verfolgungen ihren tödlichen Charakter. Bedrückend sind sie immer noch genug. So ist es Altgläubigen verboten untereinander zu heiraten und sie zahlen doppelte Steuern. Dies dürfte einer der Anlässe für die ab ca. 1724 einsetzende Migration vieler Gläubiger in das Gebiet an der Donaumündung gewesen sein. Dort, im Delta des großen Flusses, im heutigen Rumänien, aber auch in Moldawien, der Bukowina und dem Südwesten der Ukraine leben sie heute noch als Minderheit der Lipowaner (Lindenleute), pflegen ein altertümliches Russisch und ihren Glauben. Vylkowe (Wilkowo) noch auf der ukrainischen Seite des Donaudeltas, einer Stadt von nicht einmal 10.000 Einwohnern, ist eins ihrer Zentren. Besonders der Fischfang bildet hier ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage.
Die aufgeklärte Zarin Katharina (1762–1796) nahm teilweise den Druck von den Altgläubigengemeinden. So wurde die Doppelbesteuerung aufgehoben und ihnen die Rückkehr nach Moskau gestattet. Dies sollte sich ändern, als 1825 Nikolaus I. die Macht übernahm. Dessen Repressionen, die alle betrafen, die als Gefahr für die Macht des Zaren angesehen wurden, erfassten nun auch wieder die Altgläubigen.
Besonders bemerkbar machte sich bei ihnen das Fehlen von Priestern. Diese wieder können nur von einem geweihten Bischof in ihr Amt eingesetzt werden. Den aber gab es in Russland nicht mehr. Schließlich fand eine Gesandtschaft der Altgläubigen, die zuvor sogar Nordafrika bereist hatte, 1846 in Konstantinopel den zu dieser Zeit amtslosen Metropoliten Ambrosios und bewegte ihn zum Übertritt. Sein neuer Sitz wurde der kleine Ort Belaja Kriniza in der zu dieser Zeit noch österreichisch-ungarischen Bukowina.
Hier, wo schon zahlreichen Lipowaner siedelten und auch ein kleines Kloster der Altgläubigen existierte, unerreichbar für die Macht der Zaren in St. Petersburg, entstand ein neues Zentrum der Bewegung und sicherte deren erfolgreiches Überleben. Und endlich brachte die Revolution von 1905 die längst überfällige Religionsfreiheit – wenn auch nur für wenige Jahre.
Dann kamen die Revolutionen von 1917, der Bürgerkrieg und die endgültige Machtübernahme der Bolschewiki. Wie für alle anderen Religionsgemeinschaften bedeutete das gnadenlose Unterdrückung, Verfolgung und Verhaftung der Priester, Rückgang der Mitgliederzahlen, Kirchenschließungen. Dazu entstand in den 20er Jahren noch durch Übertritte von Bischöfen des Moskauer Patriarchats eine 2. Hierarchie, die 1963 ihren Sitz nach Nowozybkow im Oblast Brjansk (heute Russische Förderation) verlegte. Die Kommunisten werden das gern gesehen haben. Das Prinzip "divide et impera" war ihnen bestens bekannt.
Mehrfach verschoben sich in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts die Grenzen im Südwesten. Erst kam Belaja Kriniza zu Rumänien, dann unter sowjetische Herrschaft. So wurde der Bischofssitz in ostrumänische Brăila verlegt.
Die Zeit nach Stalin brachte dann erste Entspannungen. 1971 hob die Russisch-Orthodoxe Kirche den seit 300 Jahren bestehenden Bann gegen die Altgläubigen auf. Im Zuge der Perestroika konnten die durch die rumänisch-sowjetische Grenze getrennten Kirchen wieder aufeinander zugehen. 1988 feierten sie in Moskau und in Belaja Kriniza, das vielleicht langsam wieder seine vormalige Bedeutung erlangen könnte, das tausendjährige Jubiläum der Christianisierung der Rus.
Nach dem Sturz Zar Nikolai II. im Februar 1917 strebte die Ukraine die Loslösung von Russland an. Gut ein Jahr später, am 22.01.1918 proklamierte die Rada, die damalige ukrainische Regierung, die vollständige Unabhängigkeit der Ukrainischen Volksrepublik.
Parallel dazu wünschte man auch eine vom Moskauer Patriarchen unabhängige Nationalkirche. Ziel war dabei die Autokephalie, also die vollkommene Eigenständigkeit, einschließlich des Rechts, ihr Oberhaupt selbst wählen zu können. Im Mai 1920 ist es dann soweit. In Kiew wird eine Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche ins Leben gerufen und im Oktober des folgenden Jahres auf einem Sobor (Synode) Vasyl Lypkivskyj zu deren ersten Metropoliten gewählt.
Die Sache hat nur einen Haken, nämlich dass kein anderer orthodoxer Patriarch diese Wahl anerkennt und sie somit kirchenrechtlich eigentlich nicht gültig ist. Die Kommunisten, die in der Ukraine längst wieder das Ruder in der Hand halten und das Land erneut unter die Vorherrschaft der Moskauer Zentrale gebracht haben, stört das nicht. Eine gespaltene Kirche ist eine geschwächte Kirche und so leichter zu beherrschen. So lassen sie die Autokephalen gewähren. Diese zählen Mitte der 20er Jahre nach eigenen Angaben 3-6 Mio. Gläubige zu ihren Anhängern, verfügen über 1000 Pfarreien, 1500 Priester und 30 Bischöfe.
Als jedoch der Moskauer Patriarch Sergej 1927 seine Loyalität dem Sowjetregime gegenüber erklärt, fällt die ukrainische Kirche in Ungnade. Bischof Lipkivskyj muss noch im gleichen Jahr zurücktreten und wird verbannt, 1930 die Autokephalie aufgehoben, zahlreiche Geistliche folgen den Bischof in die Verbannungsorte; 1937 dann, im Jahr der Großen Terrors, wird die Kirche aufgelöst.
Einen neuen Anfang versucht man 1941. Die Sowjets sind vertrieben und die deutschen Besatzer, die ein Reichskommissariat Ukraine errichtet haben, betrachten nationale Kirchen als nützliche Elemente zur Beherrschung unterworfener Völker. So kommt es schon im November 1941 zur Wahl Illarions, Bischof von Cholm und Podlachien (einer Landschaft in Ostpolen) zum Kiewer Metropoliten. Diesmal ist die Wahl kirchenrechtlich korrekt, nur die Nazis erkennen sie nicht an.
Doch wie auch immer, dieser zweiten autokephalen Kirche auf ukrainischem Boden ist nur eine kurze Zeitspanne vergönnt. Ihre gesamte Hierarchie flieht 1943/44 vor der vorrückenden Roten Armee. Im Ausland, besonders den USA, lebt die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche weiter unter den dortigen Exilukrainern, während sie in der UdSSR verboten bleibt. Das ändert sich erst mit der Ära Gorbatschow.
1989 konnten die Autokephalen in der Ukrainischen SSR ihre Legalisierung erreichen. Aus der amerikanischen Diaspora kam Mstyslav Skrypnik und wurde in 1990 in Kiew zum Patriarchen geweiht.
1990 stirbt Pimen I., seit fast 20 Jahren Oberhaupt der Russisch Orthodoxen Kirche. Neuer Patriarch von Moskau und ganz Russland wird Alexius II. In dieser Zeit verstärken sich auch die Unabhängigkeitsbestrebungen innerhalb des ukrainischen Klerus. In Moskau versucht man diesen Tendenzen entgegenzuwirken und erteilt der Ukrainischen Orthodoxen Kirche im Oktober 1990 das Recht auf Selbstverwaltung. Doch es ist zu spät. Der Zug in Richtung politischer und religiöser Eigenständigkeit ist längst abgefahren. Am 24. August 1991 erklärt die Ukraine ihre Unabhängigkeit.
Die neue Regierung unter Präsident Kravtschuk unterstützt die Entstehung einer Nationalkirche. Eine nicht unbedeutende Zahl ukrainischer Bischöfe tritt zu den Autokephalen über. Nach anfänglichem Zögern tut dies auch Mychajlo Antonowytsch Denyssenko, unter Pimen zweiter Mann der orthodoxen Hierarchie und nun Metropolit von Kiew und der gesamten Ukraine. Im gleichen Jahr geht die Sowjetunion sang- und klanglos unter.
Nach dem Tod des autokephalen Patriarchen Mstyslav Skrypnik 1993 kommt es zur Spaltung. Ein Teil der Autokephalen Kirche wählt Bischof Dymytrij Jarema, einen Mann, der den Gulag von innen kennen lernen musste, der andere Volodomyr Romaniuk zum Patriarchen. Dieser Teil wird jetzt die Ukrainisch Orthodoxe Kirche – Kiewer Patriarchat. Wieder steht Dennysenko an 2. Stelle hinter dem Patriarchen.
Doch 1995 stirbt Romaniuk bei einem Treffen in Denyssenkos Haus. Eine Autopsie findet nicht statt. Die Beisetzung des Leichnams in der Kiewer Sophienkirche wird verweigert und es kommt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften. In der Folge tritt der ukrainische Justizminister zurück, zwei hohe Offiziere verlieren ihren Job. Als Filaret II. wird Dennysenko am 20. Oktober zum Patriarchen der Ukrainischen Orthodoxen Kirche – Kiewer Patriarchat gewählt. Zuvor verließen 4 autokephale Bischöfe die Versammlung. Zwei Jahre später exkommuniziert die Ukrainische Orthodoxie Moskauer Patriarchats den Konkurrenten und verhängt den Bann über ihn. Seiner Kirche fehle, so die Begründung, die kanonische Legitimität.
Autokephalen und Kiewer Patriarchat gelingt 2001 eine Einigung. Sie erkennen sich gegenseitig an und pflegen Sakramentsgemeinschaft. Zeitweilig verzichteten die Autokephalen sogar auf einen eigenständigen Patriarchen. Heute ist das Method, der Patriarch von Kiew und der gesamten Ukraine. Auch zwischen Moskauer- und Kiewer Patriarchat sind, trotz unüberbrückbarer Differenzen, die Kontakte nicht vollständig abgebrochen. Zu viele Angelegenheiten, wohl besonders in Eigentumsfragen, scheinen einen sachlichen Umgang zwingend notwendig zu machen.
So ist Kiew, die alte Hauptstadt der Rus, Sitz von zwei Patriarchen (Kiewer Patriarchat und Autokephale) sowie des Metropoliten der Ukrainischen Orthodoxen Kirche – Moskauer Patriarchat. Dazu kommt noch Großerzbischof Husar von den Unierten.
Während im Westen die Unierten zahlenmäßig die absolute Mehrheit unter den Gläubigen bilden, ist es die Ukrainische Orthodoxie Moskauer Patriarchats, die im Osten des Landes dominiert, wo auch der russischstämmige Bevölkerungsanteil überwiegt. Eine Untersuchung des Razumkov Centers von 2006, bei der 11 216 Beteiligte Auskunft über ihre religiöse Zugehörigkeit gaben, erbrachte folgendes Ergebnis:
Kiewer Patriarchat: |
14,9 |
Moskauer Patriarchat: |
10,9 |
Unierte: |
5,3 |
Autokephale: |
1,0 |
Römisch-Katholisch: |
0,6 |
Protestanten: |
0,9 |
Juden: |
0,1 |
andere: |
3,2 |
nicht religiös oder unbestimmt: |
62,5 |
Auffallend ist dabei besonders eine deutliche Mehrheit, die sich als nichtreligiös oder keiner konkreten Glaubensgemeinschaft zugehörig versteht. Sicher haben hier die Jahrzehnte antireligiöser Propaganda der Sowjetzeit ihre Spuren hinterlassen. Sicher aber auch die den normalen Gläubigen unverständlichen Machtkämpfe der miteinander konkurrierenden Hierarchien seit Erlangung der Unabhängigkeit.
Zwar dominieren die aus der Orthodoxie der Kiewer Rus hervorgegangen Kirchen mehr als deutlich, doch gab und gibt es daneben noch eine Vielzahl anderer christlicher Gemeinschaften.
Als 1064 die türkischen Seldschuken Armeniens Hauptstadt Ani eroberten und zerstörten, lösten sie eine Flüchtlingswelle aus, die bis nach Galizien gelangte. So entstand 1363 die armenische Dormition-Kirche in Lemberg (Lviv). Orthodoxe Griechen konzentrieren sich um die Stadt Mariupol am Asowschen Meer. Unter den zahlreichen Freikirchen waren und sind besonders die Baptisten stark vertreten. Ausgehend von St. Petersburg hatten diese schon seit 1874 ihre Missionsarbeit verstärkt.
Im 18. und 19. Jahrhundert riefen die Zaren Katharina die Große und Alexander II. deutsche Siedler ins Land nördlich des Schwarzen Meeres. So kamen Tausende von römischen Katholiken, lutherischen Protestanten aber auch viele Mennoniten in die Ukraine. Noch heute zeugen ihre Gotteshäuser in zahlreichen Städten und Dörfern, wie z.B. die St. Pauls Kirche in Odessa, von den einst blühenden Gemeinden.
Glasnost und Perestroika läuteten in den späten 80ern auch ein neues Zeitalter für religiöse Gemeinschaften ein. Allein 65 von ihnen ließen sich in dieser Zeit registrieren. Darunter war genau so die Neuapostolische Kirche wie auch die besonders in Kiew stark vertretenen Siebten-Tags-Adventisten. Aktiv sind auch die Zeugen Jehovas. 1994 füllten immerhin 65 165 Anhänger und Interessenten ein Kiewer Fußballstadion.
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