Ukraine
Unterwegs im zweitgrößten Land Europas
Geschichte der Ukraine
Nach dem Ende der Ära des Kosakentums und dem Niedergang des Königreichs Polen-Litauen setzten auf dem Territorium der Ukraine massive Veränderungen ein. Durch die Teilungen Polens in den Jahren 1772, 1793 und 1795 fielen die bis dahin zu Polen gehörigen Gebiete der Ukraine an das Zarenreich (Wolhynien und Podolien) und an Habsburg-Lothringen (Ostgalizien). Für die ukrainische Bevölkerung, die zum größten Teil leibeigene Bauern waren, änderte sich zunächst wenig. Auch wenn das Königreich Polen auf ukrainischem Territorium nicht mehr existierte, blieb der polnische Adel sowohl im Habsburger als auch im russischen Teil weiter dominierend und prägte das gesellschaftliche Leben.
In den vom Zarenreich neu regierten Regionen versuchte man zunächst, den polnischen Adel in die russische Bürokratie einzubinden, was sich nach Ende des polnischen Aufstandes 1830/31 ändern sollte. Die Teile des Adels, die sich gegen Moskau erhoben hatten, enteignete man und schickte sie in die Verbannung, die Verwaltung wurde russifiziert und die bis zu diesem Zeitpunkt praktizierte polnische Amtssprache durch die russische ersetzt. Zahlreiche römisch-katholische Klöster wurden geschlossen und im Jahre 1839 die Unierte Kirche verboten. Trotz dieser Maßnahmen behielten die Polen neben den Juden, die meist als Gutspächter oder Schankwirte arbeiteten, ihre führende Stellung im wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Leben.
Im Osten der Ukraine blieb die vorhandene Sozialstruktur erhalten. Allerdings erhöhte Moskau den Assimilierungsdruck auf den ukrainischen Adel und die ukrainisch-orthodoxe Kirche ebenso wie auf die in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts zu Staatsbauern erklärten Kosaken. Das Kosakentum hatte hier seine identifikatorische Stellung weitgehend eingebüßt. Dennoch war es der russische Teil von dem die ersten Impulse zur Schaffung einer nationalen ukrainischen Identität ausgingen.
Wie überall auf dem europäischen Kontinent im 19. Jahrhundert gab es auch hier Intellektuelle im ukrainischen Adel und der kosakischen Oberschicht, die sich für Kultur und Sprache zu interessieren begannen und nationale Bewegungen ins Leben riefen. Im Vordergrund der Bemühungen standen nicht nur die Sammlung ukrainischer Volkslieder und Kosakenepen, man fing an, die ukrainische Sprache zu erforschen und widmete sich der Untersuchung der nationalen Geschichte in Abgrenzung zur russischen und polnischen. Große Popularität erlangten die Werke des ukrainischen Dichters Nikolai Gogol, der in seinen Erzählungen (Abende auf dem Vorwerk bei Dikanka; Mirhorod) die Welt der ukrainischen Bauern und Kosaken beschreibt und diese mit phantastischen Elementen verbindet.
Am bedeutendsten für die ukrainische Nationalbewegung sollte der aus der Nähe Kiews stammende Sohn eines leibeigenen Bauern Taras Schewtschenko (1814-1861) werden, der in Petersburg an der Kunstakademie studierte und sich später der Dichtkunst zuwandte. Aus seiner Feder stammen unter anderem die bedeutende Sammlung ukrainischer Gedichte mit dem Titel "Kobzar" (Spielmann) und das Poem "Hajdamaky", welches vom Aufstand der Hajdamaken (ukrainische Bauern und Kosaken) im Jahre 1867 gegen das Königreich Polen-Litauen handelt. Schewtschenko war Mitglied der Kyrill-Methodius-Gesellschaft, die im Jahre 1845 durch Intellektuelle der Kiewer Universität gegründet wurde. Der Bruderschaft, die sich der ukrainischen Nationalbewegung verschrieben hatte, gehörten so namhafte Persönlichkeiten wie der Historiker Mykola Kostomarow, Dichter und Historiker Pantelejmon Kulisch, der Ethnograph Opanas Markowytsch und der Dichter Wasyl Bilozerskyj an.
Für die Zarenregierung wurde die ukrainische Nationalbewegung zu einer immer größeren Bedrohung. Man griff rigoros durch, löste die Kyrill-Methodius-Gesellschaft im Jahre 1847 auf und schickte ihre Mitglieder in die Verbannung. Schewtschenko, der in seinen Gedichten die sozialen Verhältnisse in der Ukraine aufzeigte und den Widerstand gegen die russische Besatzungsmacht propagierte, traf es besonders hart. Er musste Wehrdienst unter unwürdigsten Bedingungen in einem kasachischen Steppenbataillon ableisten, wurde ab 1850 in der Festung Nowopetrowsk am Kaspischen Meer interniert und bekam ein lebenslängliches Aufenthaltsverbot für das Territorium der Ukraine. Nach dem Tode des Zaren Nikolaus I. wurden die Mitglieder der Kyrill-Methodius-Gesellschaft sukzessive amnestiert und begannen sich in Sankt Petersburg neu zu organisieren.
Auch in der Ukraine selbst bildeten sich Gemeinschaften (Hromady), die den nationalen Gedanken aufgriffen, kulturell aktiv wurden und Schulen zur Volksbildung einrichteten.
Eine weitere Zäsur bildete der Aufstand von 1863, der von polnischen Adligen in der rechtsufrigen Ukraine initiiert wurde. Ziel der Polen war es, die ukrainische Bevölkerung zu gewinnen, um gemeinsam gegen die russische Besatzung vorzugehen. Das Vorhaben der Polen scheiterte. Die Reaktion der Zarenregierung ließ nicht lange auf sich warten. Es setzte eine Welle der Verfolgung mit Enteignungen, Deportationen und Hinrichtungen von Polen ein. Die Niederschlagung des polnischen Aufstandes bot den Russen im selben Atemzug die Möglichkeit, gegen die schon längere Zeit mit Misstrauen beäugte ukrainische Nationalbewegung vorzugehen. Die Hromady wurden aufgelöst, ihre Mitglieder verbannt und die Schulen geschlossen. Außerdem wurde von Seiten der Politik zunächst die Verbreitung ukrainischsprachiger Schriften, mit Ausnahme der schönen Literatur, später dann ukrainischsprachige Theateraufführungen und der Druck ukrainischer Lieder untersagt.
Auch wenn die Maßnahmen der russischen Regierung eine deutliche Bremse der Bemühungen um die Schaffung einer nationalen ukrainischen Identität darstellten, fanden sich aber immer wieder Aktivisten wie die Historiker der Kiewer Universität Volodymyr Antonovyc und Mychajlo Drahomanov, die sich trotz zu erwartender Repressalien als geistige Führer in den Dienst der ukrainischen Nationalbewegung im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts stellten.
In Galizien, dem zur Habsburger Monarchie gehörigen Teil der Ukraine setzte das Erstarken der Nationalbewegung später ein als auf russischem Gebiet. Zwar gab es an der Lemberger Universität seit 1887 das Studium Ruthenum, ein philosophisch- theologisches Institut, welches sich speziell mit der Ukraine beschäftigte, auch existierten seit Beginn des 19. Jahrhunderts Vereine, die sich mit der ukrainischen Geschichte und Kultur auseinandersetzten. Mit der Einführung des österreichischen Verfassungsstaates im Jahre 1861, der den einzelnen Kronländern Parlamente mit Lokalregierungen zubilligte, war ein Erstarken der Nationalbewegung im Westen der Ukraine zu verzeichnen. Sie übernahm aufgrund der zunehmenden Repressionen gegen ukrainische Nationalisten auf der Moskauer Seite zum Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr die Vorreiterrolle. So entstand in Lemberg im Jahre 1869 die erste ukrainischsprachige Literaturzeitschrift namens "Prawda" (Wahrheit) und es wurden nationale Organisationen mit Lesezirkeln zur Volksbildung gegründet. Eine bedeutende Funktion kam der 1873 ins Leben gerufenen Schewtschenko-Gesellschaft zu, die sich auf wissenschaftlicher Ebene mit der ukrainischen Kultur auseinandersetzte. Die wichtigste Institution aber war die griechisch-katholische Kirche, die über ein breites Netzwerk zur Verbreitung der nationalen Idee verfügte.
Die Hauptmotivation der Nationalbewegung bestand zunächst hauptsächlich in der Abgrenzung zur polnischen Kultur, die die Westukraine über Jahrhunderte prägte. Gleichzeitig sah ein Großteil der Nationalbewegung Rußland als Schutzmacht und Partner an. Mit der Gründung der Ruthenisch-Ukrainischen Radikalen Partei, der ersten Partei der Ukraine, im Jahre 1890 durch den berühmten westukrainischen Schriftsteller, Ethnographen und Literaturhistoriker Ivan Franko fanden antiklerikale, agrarsozialistische Bestrebungen Einzug in die ukrainische Nationalbewegung. Ihr folgend gründeten sich die gemäßigtere National-Demokratische Partei, deren Anhänger sich aus Nationalliberalen und dem griechisch-katholischen Klerus rekrutierten, sowie die Sozial-Demokratische Partei.
Spielten die moskophilen Anhänger der ukrainischen Nationalbewegung zunächst noch eine große Rolle, schmolz deren Bedeutung zusehends mit den Erfolgen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Kampf gegen die immer noch bestehende Übermacht des polnischen Einflusses erreicht wurden. Dies spiegelte sich in der zunehmenden Zahl der ukrainischen Abgeordneten im Landtag, einem Aufblühen der Wirtschaft und der steigenden Zahl ukrainischer Volksbildungseinrichtungen wieder.
Beispielhaft für den Aufschwung im Wissenschaftsbereich zeigte sich der Historiker Mychajlo Hruschewskyj, Leiter des Lehrstuhls für osteuropäische (de facto ukrainische) Geschichte und der Schewtschenko-Gesellschaft. Unter Hruschewskyj veröffentlichte die Gesellschaft bis 1914 ca. 300 Bände wertvollen wissenschaftlichen Inhalts. Er selbst schrieb eine zehnbändige ukrainische Geschichte.
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