Russland
Unendliche Weiten und zahllose Schätze
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Die Geschichte von Wolgograd, dem ehemaligen Stalingrad, bewegt vor allem deutsche Besucher. Krieg und Wiederaufbau haben die Industriestadt wie kaum eine andere geprägt. Der Wechsel zwischen Erinnerung und Wiedergeburt sowie landschaftlich und kulturhistorisch bedeutenden Orte in der Umgebung der Stadt sorgt für eine Reise der ganz besonderen Art.
Die günstige geografische Lage zwischen Wolga und Don machte Wolgograd bereits im Altertum zu einem Schnittpunkt zahlreicher Handelsrouten.
Belegt durch archäologische Funde ist, dass bereits im 5. Jahrhundert vor Christus das legendäre Reiternomadenvolk der Skythen in der Gegend siedelte. Im 9. Jahrhundert war Wolgograd Teil des Chasarischen Khaganat, das sich über die gesamte südrussische Steppe bis an den Kaukasus erstreckte. Den Herrschern der Rus aus Kiew gelang es schließlich, die Macht der Chasaren zu brechen. Die folgenden Jahrhunderte waren geprägt vom Aufenthalt verschiedener Stämme und Horden im Gebiet, darunter die berühmte Goldene Horde.
Offiziell gegründet wurde das heutige Wolgograd am 1. Juli 1589, als die Russen eine Festung errichteten, die Nomadenstämme aus dem Süden abwehren sollte. Als erster Name der Stadt ist Zarizyn verbürgt. Von der Festung ist bekannt, dass sie aus Holz gebaut und auf einer mittlerweile nicht mehr existierenden Wolgainsel gegenüber der Mündung des Flusses Zariza (Gelbes Wasser) stand.
Die Festung wurde später ans rechte Wolgaufer verlegt, schon vor dem steinernen Gebäude 1664 entstand 1608 die Kirche des Hl. Johannes des Täufers. Peter der Große war dreimal während seiner Regierungszeit zu Besuch und schenkte den Bewohnern seinen Gehstock und eine Mütze, die noch heute im Stadtmuseum aufbewahrt werden. Aufständische Kosaken belagerten die Stadt mehrmals und nahmen sie 1670 und 1774 ein.
Unter Zarin Katharina II. kamen ab 1765 vermehrt ausländische Siedler, denen zahlreiche Privilegien zugestanden wurden. Sie gründeten 30 Kilometer südlich von Zarizyn die wohlhabende Kolonie Sarepta, die schnell für hochwertige Waren aus den dortigen Manufakturen sowie die Senfherstellung berühmt wurde.
Ab 1783 entwickelte sich Zarizyn mehr und mehr zu einem Wirtschaftszentrum. Die 1862 nach Kalatsch am Don und 1872 nach Grjasi gebauten Eisenbahnlinien ließen die Stadt zum Knotenpunkt der Ölversorgung zwischen Kaspischem Meer, Schwarzem Meer, Kaukasus und Zentralrussland werden. Es siedelten sich vermehrt Groß- und Schwerindustrie sowie Erdölraffinerien an.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Zarizyn auf 137.000 Einwohner angewachsen. Mit der Umbenennung in Stalingrad 1925 wurde eine neue Epoche der Stadtgeschichte eingeläutet.
Dank des sowjetischen Fünfjahresplans konnte Stalingrad zu einem der erfolgreichsten Industriezentren des Landes heranwachsen. Der industrielle Aufschwung fand mit dem Zweiten Weltkrieg ein jähes Ende. Stalingrad war eines der Ziele der Offensive "Fall Blau" der deutschen Wehrmacht. 230.000 Wehrmachtssoldaten kesselten die Stadt von drei Seiten aus ein. Es folgte eine massive Bombardierung durch die Luftwaffe.
Im November 1942 hatte die Wehrmacht 90 Prozent des Stadtgebietes von Stalingrad erobert. Obwohl Hitler die Schlacht bereits als gewonnen darstellte, kesselte die sowjetische Gegenoffensive "Operation Uranus" die deutschen Truppen ein. Am 2. Februar 1943 stellten die Deutschen die Kampfhandlungen ein, 108.000 Soldaten gingen in russische Kriegsgefangenschaft.
Der Wiederaufbau von Stalingrad startete umgehend. 1945 verlieh die Sowjetunion der Stadt den Titel "Heldenstadt". Unmittelbar in der Stadt befanden sich die Kriegsgefangenenlager 108, 361 und 362, deren Insassen am Wiederaufbau der Stadt teilnehmen mussten. Lager 362 war bis 1954 in Betrieb.
Die großzügigen Alleen und Plätze Stalingrads sollten den heldenhaften Charakter der Stadt widerspiegeln, die Architektur wird auch "stalinistischer Zuckerbäckerstil" genannt. Unter Nikita Chruschtschow setzte eine Phase der Entstalinisierung ein, weshalb die Stadt am 15. November 1961 in Wolgograd umbenannt wurde.
Heute ist Wolgograd eine moderne Metropole mit 1.018.000 Einwohnern. Neben der russischen Mehrheit leben auch Armeniern, Ukrainern, Tataren und Aserbaidschaner in der Stadt, die nach wie vor ein wichtiger Wirtschaftsstandort ist. Neben Erdöl- und Metallverarbeitung sind auch die Nahrungsmittelindustrie und der Schiffbau präsent. Das größte Wasserkraftwerk Europas befindet sich im Norden der Stadt.
Mit sechs Universitäten und zahlreichen Instituten ist Wolgograd auch ein wichtiger Bildungs- und Kulturstandort. Zu den Söhnen und Töchtern der Stadt zählen der ehemalige KGB-Chef Wladimir Krjutschkow (1924-2007), Komponistin Alexandra Pachmutowa (*1929), Handballer Igor Wassiliew (*1964), der Trainer der russischen Nationalmannschaft Leonid Sluzki (*1971), die ehemalige Spionin und Modedesignerin Anna Chapman (*1982), Hochsprung-Olympiasiegerin Jelena Issinbajewa (*1982) sowie unzählige andere Weltklassesportler und Autorin Marianna Salzmann (*1985).
Stalingrad war nach der Schlacht so gut wie ausgelöscht. Wer auf einer Reise das heutige Wolgograd entdecken will, stößt auf dem Gebiet der modernen Stadt immer noch auf kleine und große Zeugnisse, die an diese grausame Schlacht erinnern. Auf Spaziergängen während der Reise zeigt sich schnell, dass sogar Bäume oder Laternenpfähle zum Denkmal werden können.
Auf dem Bahnhofsvorplatz neben dem Historischen Memorialmuseum leuchtet heute immer noch eine mit Granatsplittern gespickte Straßenlaterne. Der einzige Baum, der das Inferno von Stalingrad überlebt hat, steht auf der Allee der Helden. Die Grudinin-Mühle wurde als Mahnmal in dem Zustand nach den Kämpfen bis heute belassen. Vermutlich ist die komplette Zerstörung der Grund, warum die Bewohner so viel Wert auf Grün in der Stadt legen.
Wer im Frühling eine Reise nach Wolgograd unternimmt, wird Zeuge eines einmaligen Blütenmeers. Zunächst öffnen sich die Aprikosen- und Kirschblüten, dann folgen Flieder, Akazien, Trompetenbäume und Kastanien.
Die wichtigsten Sehenswürdigkeiten bei einer Reise nach Wolgograd können gut zu Fuß entdeckt werden. Vieles wurde nach der Zerstörung der Stadt wieder aufgebaut. Der Hauptbahnhof mit seinen Deckengemälden und Statuen erinnert an die Glanzzeiten sowjetischer Architektur.
Wer auf seiner Reise die sowjetische Industriearchitektur unter die Lupe nehmen will, wird am Getreidesilo fündig. Einst das höchste Gebäude der Stadt, war auch militärstrategisch ein wichtiger Punkt. Das Stahlwerk "Roter Oktober" wurde von den Deutschen unter hohen Verlusten eingenommen, wobei die Haupthalle mit acht Martinsöfen in russischer Hand blieb. In dem nach dem Krieg wieder aufgebauten Werk arbeiten heute 8000 Beschäftigte.
Die Traktorenfabrik "Dserschinksi" war das erste Werk seiner Art in der Sowjetunion. Die Schlacht um diese Industrieanlage war die grausamsten im Kampf um Stalingrad, die Sowjets verloren bis zur Einnahme durch die Wehrmacht rund 15.000 Soldaten. Heute ist das Werk immer noch der wichtigste Produzent Russlands.
Bei einer Reise nach Wolgograd darf die Tanzende Brücke nicht fehlen. Seit 2009 ist sie für den Verkehr freigegeben, führte jedoch ab einer bestimmten Windstärke Wellenbewegungen aus. Trotz nachträglich angebauten Dämpfern schwingt sie immer noch um neun Zentimeter. Weitere Sehenswürdigkeiten umfassen das Hotel Wolgograd, die Musikalische Komödie, die als Kommandozentrale der Wolgakriegsflotte diente und heute ein Theater ist sowie die Philharmonie direkt an der Wolga.
Auf einer Reise nach Wolgograd gehört das Panorama-Museum auf den Besichtigungsplan. Hier finden sich neben einer überdimensionalen Leinwand viele Dokumente und Gegenstände aus der Zeit der Schlacht. Neben den originalen Fahnen aller Einheiten werden auch Geschenke ausgestellt, die als Anerkennung für den Mut der Soldaten überreicht wurden wie etwa die Replik der Statue "Der Kuss" von Auguste Rodin oder das Schwert des britischen Königs George VI.
Direkt neben dem Museum liegt das Pawlow-Haus, das 58 Tage lang nur von einer Handvoll Soldaten verteidigt wurde. Während dieser Zeit wurde in dem Haus ein Mädchen namens Sina geboren.
Das Denkmalensemble auf dem Mamajew-Hügel hat Bitterkeit und Stolz der Stadt in Stein verewigt. Vom Sockel der Statue "Mutter Heimat geht der Blick weit auf Wolgograd und den Fluss. Hier befinden sich auch die Grabstätten von 36.000 russischen Soldaten. Viele Namen der Gefallenen konnten erst in jüngster Zeit ausfindig gemacht werden. In die orthodoxe Allerheiligenkirche kommen die Menschen, um ein Gebet für die Toten zu sprechen.
Die gefallenen deutschen Soldaten haben ihre letzte Ruhestätte 37 Kilometer vom Stadtzentrum am Fluss Rossoschka gefunden. Auf insgesamt sechs Hektar befinden sich nicht nur Grabstätten, sondern auch eine Erinnerungsstätte für alle Vermissten und nicht mehr zu Bergenden. Gegenüber liegt ein Friedhof für rund 3000 russische Gefallene.
Es lohnen noch weitere Ziele bei einer Reise in die Umgebung der Stadt. Rund um Wolgograd gibt es zahlreiche archäologische Stätten von der Zeit der Urmenschen bis zur mongolischen Invasion.
In der Kleinstadt Dubowka liegt das Haus des Kaufmanns Shemarin. Das Ende des 19. Jahrhunderts errichtete Anwesen haben Handwerker aus verschiedenen Ländern gestaltet. Noch heute faszinieren das Dach mit Kuppeln und Spitzen, der Stuck und die geschmackvollen Eichentüren. Das architektonische Meisterwerk war das erste Haus der Gegend, das mit Elektrizität versorgt wurde. Heute befindet sich eine Bibliothek in dem Anwesen.
Wer in die Geschichte der Großregion eintauchen möchte, sollte das historisch-landeskundliche Museum in Kamyschin nicht verpassen, das allein schon architektonisch eine Augenweide ist.
In vorgeschichtliche Zeit geht ein Denkmal neben der Kosakensiedlung Trjochostrowskaja zurück. Hier liegt der "Nabel der Welt". Die Kultstätte hat ihren Namen aufgrund ihrer nabelähnlichen Form auf Satellitenbildern enthalten. Angebetet wurde dort der Feuergott Agni. Im Inneren des Urakow-Hügels befindet sich ein von Menschenhand gestaltetes Höhlenlabyrinth. Wissenschaftler sind der Meinung, Wolgadeutsche hätten hier im 18. und 19. Jahrhundert Steine abgebaut.
Der Quelle Olgin Rodnik beim Dorf Wischnjowje ist ein Ort der Sagen und Legenden. Die Heilige Olga soll sie eigenhändig ausgegraben haben. Eine andere Überlieferung weiß zu berichten, dass die Nonnen des nahegelegenen Frauenklosters über die Wasserstelle in der Steppe durch ein Wunder erfahren haben. Vom Kloster sind heute nur noch die Grundmauern übrig, doch es kommen immer noch zahlreiche Wallfahrer zu der Quelle.
Wer Ruhe und Kraft tanken will, findet auf der Reise dazu in Naturparks wie Donkoj, der Wolga-Achtuba-Aue oder am Buluchta See Gelegenheit. Die Gegend bietet ferner die Möglichkeit, auf den Spuren der Wolgadeutschen zu wandeln, die ab dem 18. Jahrhundert die Region und ihre Geschicke maßgeblich mitprägten. Im Dorf Nishnjaja Dobrinka, der Ansiedlung Walter in Gretschichino und in Sarepta sind noch Sakralbauten der Wolgadeutschen erhalten.
Eine Reise nach Wolgograd ist vor allem das Eintauchen in die jüngere europäische Geschichte mitten im Herzen von Russland. Überall in der heute modernen Stadt ist der Atem der Geschichte lebendig, was Wolgograd jedoch nicht daran gehindert hat, sich zu einer lebendigen Industrie- und Kulturmetropole zu entwickeln. Wer eine andere, ursprüngliche Facette von Russland fernab von Moskau und St. Petersburg entdecken und das reiche historische Erbe der Region kennenlernen möchte, sollte daher unbedingt Wolgograd in die Reiseplanung mit einbeziehen.
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