Estland
Eldorado für Kulturfans und Naturliebhaber
Seit Zusammenbruch der Sowjetunion hat sich Estland verändert und weiterentwickelt. Dies gilt auch für die Religionen. Um die aktuellen Entwicklungen und die Verteilung der Religionen zu verstehen, ist ein Blick zurück notwendig.
Die meisten Menschen in Estland waren und sind Christen. Vor allem die protestantische Kirche war auch während der Zeit der Zugehörigkeit zur Sowjetunion aktiv und ein Ort des Widerstands. Gleiches gilt für die Russisch-Orthodoxe Kirche. Katholiken gab und gibt es in Estland nur wenige.
Die Freiheit der Religionen ist heute in der estnischen Verfassung geschützt. Dennoch sind nur ein Drittel aller Esten Mitglieder einer Religionsgemeinschaft. Die Verteilung der Religionen ist wie folgt:
14,1 Prozent Evangelisch-Lutherisch
12,8 Prozent Russisch-Orthodox
0,5 Prozent Katholisch
0,5 Prozent Baptisten
0,1 Prozent Jüdisch
In Estland gibt es auch ca. 4000 Personen der zu den Christen gerechneten Gruppierung der Zeugen Jehovas. Weiterhin existieren noch wenige sonstige protestantische Gemeinden sowie islamische und neopagane, also sogenannte neuheidnische Gemeinschaften.
Die hohe Präsenz der Evangelisch-Lutherischen Kirche, etwa bei politischen Staatsereignissen, ist angesichts der großen Mehrheit konfessionsloser Esten noch als Relikt früherer Zeiten anzusehen. Dabei ist die Gesellschaft in Estland erfolgreich bemüht, ein freies und vielfältiges Miteinander verschiedener Religionen in Toleranz zu ermöglichen.
Im 13. Jahrhundert bringen die Ordensritter den katholischen Glauben mit dem Schwert nach Estland. Sie errichten zahlreiche Ordensburgen, zwingen die örtlichen Esten und Liven zur Abkehr vom Heidentum und etablieren im Baltikum eine für seine Zeit moderne Staatstruktur. Mit den nachfolgenden Händler und Bürgern, die sich in den wachsenden und blühenden Städten Estlands niederlassen, nimmt das katholische Kreuz einen immer festeren Platz im Glauben der Deutschbalten und der Esten ein. Kirchen und Kathedralen entstehen, darunter der imposante Tallinner Dom auf dem Domberg.
Mit der Blüte der Städte blüht auch der katholische Glauben bis ins 16. Jahrhundert. Der Katholizismus in Estland war im 15. Jahrhundert noch mit 100 Pfarrbezirken und 15 Klöstern gut vertreten. Der Russisch-Livländische Krieg und der folgende Frieden von Altmark 1629 brachten dann jedoch die protestantischen Schweden an die Macht. Der Katholizismus wurde nahezu vollständig von der protestantischen Kirche verdrängt. Ein Wiedererstarken der katholischen Kirche fand Ende des 2. Weltkrieges durch Repression der Sowjetunion ein jähes Ende.
Die wenigen katholischen Gemeinden heute profitieren von der sehr konstruktiven Ökumene Estlands, so ist die katholische Kirche Mitbegründer des estnischen Rates der Christlichen Kirchen.
Eine jüdische Präsenz in Estland ist erst im 19. Jahrhundert spür- und nachweisbar, nachdem Estland an Russland gefallen ist und der russische Zar Alexander II. die Ansiedlung von Juden in Estland erlaubt. In der Folge siedelten sich mehrere hundert jüdische Handwerker, Geschäftsleute und Intellektuelle in den estnischen Städten an und entwickelten eine jüdische Gemeinde mit jüdischen Schulen, Theatern und Sportvereinen. Bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts erblühte die jüdische Kultur und Religion im toleranten Estland.
Die kulturelle und religiöse Freiheit der etwa 5.000 Juden endete 1940 durch die sowjetische Besatzung. Ein Zehntel der Juden wurden nach Sibirien verschleppt oder getötet. Dreiviertel der verblieben Juden flohen dann vor den heranrückenden Deutschen 1941. Die verbliebenen fast 1.000 Juden wurden von den Nationalsozialisten in über 20 Arbeits- und Konzentrationslagern auf estnischem Boden ermordet. Das Land wurde Ende 1941 von den Deutschen als "judenfrei" erklärt. An der Stelle des großen ehemaligen KZ in Klooga kann heute eine Gedenkstätte besucht werden.
Estland wird seit dem 16. Jahrhundert als überwiegend lutherisch angesehen. Die Estnische Evangelisch-Lutherische Kirche EELK gibt sich seit 1917 als Kirche des Volkes. In einer Volkszählung von 1934 bezeichneten sich 78 Prozent der estnischen Bevölkerung als lutherische Christen.
Auch wenn die EELK ein Bollwerk gegen die Politik in der Sowjetzeit sein wollte, nahmen die Mitgliedszahlen ab. Allein in den 1960er Jahren halbierte sich die Zahl der Mitglieder. In den 1980er Jahren der politischen und gesellschaftlichen Neuorientierung nahm die Bedeutung der EELK langsam wieder zu. Sie unterstützte die Unabhängigkeitsbewegungen ideell und mit Geldmitteln.
Die Präsenz der EELK in der Öffentlichkeit war aber noch stark aus der Vergangenheit geprägt. Auch wurden Werte, Normen und Formen von westlichen Christen einfach übernommen. Trotz des auch daraus resultierenden Verlustes an Mitgliedern ist die Lutherische Kirche unter den Religionen in Estland die wichtigste geblieben.
Die heutige orthodoxe Kirche in Estland hat zwei Zweige: ist es die autonome Estnische Apostolische Orthodoxe Kirche unter dem Patriarchat von Konstantinopel. Der zweite Zweig ist eine teilautonome Estnisch-orthodoxe Kirche des Patriarchats der russisch-Orthodoxen Kirche in Moskau.
Eine sogenannte Orthodoxie kam im 11. Jahrhundert durch Missionare aus Pskow und Nowgorod nach Estland. Die erste Erwähnung einer orthodoxen Gemeinde in Estland stammt aus 1030. Bis zum 18. Jahrhundert liegt Vieles der orthodoxen Kirchengeschichte im Dunklen. Estland war Teil des Russischen Reiches geworden, nachdem es 1721 von Schweden nach dem verlorenen Großen Nordischen Krieg abgetrennt wurde.
Die orthodoxe Kirche ist untrennbar mit der angestrebten Unabhängigkeit Estlands verbunden. Bischof Platon von Tallinn bezahlte 1919 diese Parteinahme im Unabhängigkeitskrieg gegen die Rote Armee mit dem Tod durch Hinrichtung. Einen unabhängigen estnischen Staat erkannte Russland schließlich1920 an, und damit auch die Estnische Apostolisch-Orthodoxe Kirche EAOK.
In den folgenden und konfliktreichen Jahren gewann der Patriarch von Konstantinopel fast die völlige Kontrolle über die EAOK bis zum 2. Weltkrieg. Estland wurde zunächst 1940 von der Sowjetunion, 1941 von Nazi- Deutschland besetzt. Viele Esten flohen, auch später vor der Rückeroberung durch die Sowjetunion im Jahr 1944.
Die bis heute bestehende Teilung der orthodoxen Kirche hat in dieser Zeit schon ihre Wurzeln und setzt sich durch die Jahre bis zur Unabhängigkeit Estlands fort. Nach der Unabhängigkeit 1991 kam es zu Versuchen der Einigung in der Eigentumsreform.
Die Spaltung der orthodoxen Gemeinden ließ sich aber nicht mehr auflösen. Im Jahre 2004 schätzte man, dass etwa 20.000 Gläubige zur autonomen orthodoxen Kirche Estlands gehörten, die Mehrheit mit über 150.000 Gläubigen hielten dem Patriarchen in Moskau die Treue.
Erstaunlich genug, dass in den komplexen Fragen der Eigentumsreform, in die beide Zweige der Orthodoxen Kirche verwickelt waren, schließlich eine gütliche Einigung gefunden wurde.
Eine besondere Gruppierung sind ca. 5000 Altorthodoxe (auch Altgläubige oder Lipowaner genannt), die seit dem 18. Jahrhundert sich durch Flucht der Verfolgung durch die russischen Religionsreformer entziehen. Am estnischen Peipussee leben viele dieser Altorthodoxen in Dorfgemeinschaften, ebenso in Tartu und Tallinn.
Estland hat traditionell schon immer Strömungen unterschiedlicher Religionen beheimatet. Seit Hunderten von Jahren gibt es estnische Baptisten, Methodisten oder auch Adventisten. Diese Religionen oder Strömungen etablierten sich Ende der 1980er Jahre. Offiziell organisierten sich auch Muslime wieder in dieser Zeit. Selbst Strömungen wie die Transzendentale Meditation TM waren kurzzeitig sehr populär.
Heute findet man auch Buddhisten, Anhänger von Hare Krishna, Christen in charismatischen oder evangelikalen Gemeinden, aber auch Anhänger vorchristlicher Traditionen wie der Vereinigungskirche, Bahá’ís oder Satanisten.
Wirklich etablieren konnten sich, wenn auch in kleinem Rahmen, aber nur die Zeugen Jehovas und auch die Mormonen. Einige vorchristliche Bewegungen sind heute starke Kritiker der Christen, deren und anderen Kirchen und Religionen.
Dass es auch Meditation, Yoga, Schamanismus und Heiler in Estland gibt, zeugt von einem vielfältigen spirituellen und weltanschaulichen Interesse.
Die Religionen und weltanschaulichen Aktivitäten im Estland von heute gehen auf verschiedene geschichtliche Ursachen zurück. Die neue Säkularisierung lässt sich nicht allein aus dem Ende der Sowjetmacht erklären. Eine liberale Grundhaltung aus Tradition wird wieder erkennbar.
Die wirtschaftlichen Reformen der Regierung in Estland gehörten zu den radikalsten der nachkommunistischen Welt. Dazu passt auch die Haltung, verschiedene Religionen gleich zu behandeln und keine zu bevorzugen.
Der Einfluss auf die Politik durch Religionen ist aber eher gering. Dies wiederum fördert einen bunten Pluralismus von Religionen und Weltanschauungen. Das und vieles mehr macht Estland heute zu einem interessanten, sympathischen und gastfreundlichen Reiseland.
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