Belarus
Auf ins Unbekannte!
Besonderheiten der Bevölkerungsstruktur
Wer nach Belarus fährt, dem fällt oft auf, wie groß der Unterschied der Besiedlung zwischen den Großstädten und Dörfern ist. Während die Großstädte ähnlich wie westeuropäische Metropolen lebendig wachsen, liegt die Provinz in tiefem Dornröschenschlaf, entvölkern und verfallen die Dörfer. Das liegt nicht nur an der voranschreitenden Gentrifizierung.
Eine kurze Recherche über die Bevölkerungsstruktur Weißrusslands liefert interessante Ergebnisse: Minsk, die Hauptstadt, beherbergt beinahe 2 Millionen Einwohner. Mehr als jeder fünfte Weißrusse ist dort zu Hause, Tendenz steigend. Überträgt man dieses Stadt-Land-Bevölkerungsverhältnis auf Deutschland, müsste Berlin plötzlich 16 Millionen Einwohner haben. Dabei ist die Bevölkerungsdichte in Minsk zur Zeit zweimal größer als in der Hauptstadt Deutschlands.
Gleichzeitig ist die Bevölkerungszahl rückgängig. In den letzten 20 Jahren ist sie um 700.000 Menschen geschrumpft. Bis 2020 wird sich die Fläche der wenig bevölkerten Gebieten verdoppeln. Dabei ist schon heute jeder vierte Weißrusse Rentner, wobei viele weiterhin arbeiten. Trotz einer niedrigeren Lebenserwartung gehen die Männer mit 60 in Rente. Bei weißrussischen Frauen ist das schon mit 55 der Fall und diese leben im Durchschnitt 12 Jahre länger als Männer.
Woran liegt diese Disproportion? Warum sieht ein Land, das etwa dreimal so groß wie Irland ist, so menschenleer aus, sobald man die Großstadt verlässt? Woher kommen all die verlassenen maroden Holzhäuser?
Dazu gibt es mehrere Erklärungen. Die schwankende, tendenziell niedrige Geburtsrate ist eine davon. Die wirtschaftliche Krise der 1990er Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und die wilden Jahre danach haben deutlich dazu beigetragen. Eine instabile politische Lage, Arbeitslosigkeit, Geld- und Warenmangel, Kriminalität – all das sorgte in der Vergangenheit dafür, dass immer weniger Kinder geboren wurde (bis 1997 war die Wachstumsquote des Landes sogar negativ) und immer mehr Menschen das Land verlassen wollten.
Die Bevölkerung Weißrusslands ist heute national gesehen ziemlich homogen: etwa 84 % sind Belarussen, 8,5 % - Russen, 3,2% - Polen, 1,7% - Ukrainer. 140 andere Nationalitäten, unter anderem Litauer, Juden, Tataren, Roma, Armenier und Aserbajdschaner machen zwar einen kleinen Anteil aus, haben jedoch eine wichtige Rolle im Leben des Landes gespielt. Ein markantes Beispiel dafür ist die Stadt Hrodna.
Was Religion betrifft, ist diese Homogenität auch zu beobachten: 58,9% der Einwohner bezeichnen sich als gläubig. 82% von ihnen sind orthodoxe Christen, 12% - Katholiken, 6% der Gläubigen beträgt sonstige Konfessionen (darunter der Protestantismus, der Islam, der Judaismus und andere). Religiöse Zugehörigkeit korreliert oft mit Nationalität: Während die meisten Belarussen, Russen und Ukrainer orthodox sind, sind die meisten Polen und Litauer katholisch, daneben die Tataren mit muslimischem Glauben.
Im Ausland leben nach verschiedenen Schätzungen etwa 2,5 bis 3,5 Millionen Belarussen. Die Wirren der Geschichte (Revolutionen, Aufstände, zwei Weltkriege, der Zusammenbruch der Sowjetunion) gehen hier mit den aktuellen Ereignissen (schwierige wirtschaftliche Lage) Hand in Hand. Ein Aspekt, warum die Zahl der Auslandsbelarussen nur geschätzt werden kann, ist, dass viele belarussische Staatsbürger, die im Ausland leben, sich von der zuständigen Botschaft nicht registrieren lassen.
Das heißt also, dass die geschätzten Zahlen höher sein können, als vermutet, vor allem in den Nachbarländern Russland und die Ukraine. Die Regierung versucht, solche (oft auch schwarze) Auslands- Gastarbeit mit unpopulären Maßnahmen zu bekämpfen. Das letzte "Schmarotzer-Gesetz" (rus. декрет № 3 "О предупреждении социального иждивенчества") ist ein markantes Beispiel dafür, obwohl die Folgen des Gesetzes noch Entwicklungspotential besitzen. Denn weil das Arbeitslosengeld in Weißrussland im besten Fall 420.000 belarussische Rubel beträgt (umgerechnet etwa 20 Euro), wird auch stets nach Lösungen gesucht, den eigenen Lebensunterhalt auf andere Weise oder an anderen Orten zu verdienen.
Viele junge Belarussen studieren im Ausland, weil sie entweder über einheimische Bildung hinaus weiteres Studium aufnehmen oder sich nicht verpflichten wollen. Verpflichten? Ja, die Arbeitsplatzzuweisung, die manche aus den DDR-Zeiten kennen, besteht in Belarus immer noch. Der Ansatz an sich scheint sehr positiv zu sein, denn er macht das Studium für viele Bevölkerungsschichten zugänglich: Die besten Abiturienten studieren auf Staatskosten und bekommen noch ein kleines Stipendium dazu.
Dafür müssen sie nach dem Studium entsprechend zwei oder drei Jahre (wenn ein bestimmter Betrieb den Abiturienten für das Studium empfohlen hatte) an einem Ort arbeiten, quasi um dem Betrieb oder dem Land die Kosten für die Ausbildung "zurückzugeben". Normalerweise werden Arbeitsplätze von der Universität zugewiesen.
In vielen Fällen ist es natürlich möglich, sich einen eigenen Arbeitsplatz zu suchen, aber wer kann garantieren, dass genau der erwünschte Job pünktlich zum Ende des Studiums gefunden wird? Wer also keinen Traumjob zur richtigen Zeit findet, muss sich etwas aus dem bestehenden Arbeitsplatzangebot von staatlichen Stellen etwas aussuchen … oder ausgesucht werden.
2 Jahre sind eine lange Zeit für junge Menschen und da mit einem kostenlosen Studienplatz kaum Aussicht besteht, diese Zeit nach eigenen Vorstellungen zu verbringen, gibt es noch eine Alternative: kostenpflichtige Studienplätze. Wer diesen besetzt, muss sein Studium komplett selbst finanzieren, kann aber auf kleinere Rabatte bei sehr guten Noten hoffen.
Solche Studienplätze locken mittlerweile jedoch weniger Abiturienten als zuvor, denn der Abschluss ist trotz dem Bologna-Beitritt noch nicht automatisch im Ausland anerkannt. Wozu also ein Studium aufnehmen, das einem kaum etwas nützt, falls man sein Glück doch irgendwo anders versuchen möchte? Aus diesem Grund findet man an vielen Universitäten Europas mittlerweile Studenten, die in Weißrussland geboren sind.
Die Tschernobyl-Katastrophe hat auch die innere Migration erzeugt, wobei diese nicht ganz eindeutig zu messen ist. Viele Familien, vor allem im Süden des Landes, mussten ihre Heimatorte verlassen, um gravierenden gesundheitlichen Gefahren zu entgehen, die der Fallout im April/ Mai 1986 erzeugte.
Heute wird die Zahl der umgesiedelten Belarussen auf 130.000 geschätzt, etwa 20% aller Umsiedler zogen nach Minsk. Es gab auch viele, die nach einiger Zeit zurückkamen und die Folgen von Tschernobyl in Kauf nahmen, zu fest war die Bindung an die heimatliche Erde.
Im Gebiet Gomel liegt das radiologisch-ökologische Naturschutzgebiet "Polessje" - ein auf 30 Kilometer abgesperrtes Territorium von 216093 Ha. Dieses darf nur von Wissenschaftlern betreten werden. Es wird analysiert und geforscht, wie die Natur sich unter dem Einfluss der enormen Strahlung entwickelt, mit welchen weiteren Folgen der Katastrophe zu rechnen ist und wie die weitere Verbreitung der vorhandenen Radionuklide verhindert werden kann. Eines steht fest: Diese Länder bleiben für viele nachkommende Generationen unbrauchbar. Wildtiere leben zahlreich in verlassenen Dörfern, Pflanzen blühen, als ob es hier noch nie einen Menschen gegeben hätte.
Die innere Migration in die Großstädte gleicht einem Teufelskreis: Je mehr Menschen im Erwerbsalter ihre Dörfer und Kleinstädte verlassen, desto geringer werden die Perspektiven auf dem Land. Die Infrastruktur wird nicht weiterentwickelt oder gar abgebaut - wenn es keine Kinder mehr gibt, lohnen sich auch die Schulen direkt vor Ort finanziell nicht mehr, was weitere Migrationen nach sich zieht. Diese Perspektivlosigkeit resultiert in sozialen Spannungen, was die Situation wiederum erschwert.
Total pessimistisch ist die allgemeine Prognose jedoch nicht. Die Mortalität ist in Belarus in den vergangenen 5 Jahren deutlich gesunken, was zusammen mit den wachsenden Migrationsströmen nach Weißrussland, getragen von ausländischen Studenten, Gastarbeitern aus asiatischen Ländern, Flüchtlingen aus der Ukraine und zurückkehrenden Belarussen Anlass zur Hoffnung auf eine bessere Zukunft gibt.
Der Bedarf an Reformen ist vorhanden und immer mehr Menschen begreifen das. Die Verbesserung der Lebensbedingungen in ländlichen Regionen, die Förderung des Investitionsklimas, die finanzielle Unterstützung von Familien, die Hebung des Rentenalters und auch die Entwicklung des Ökotourismus – all das sind aktuelle Themen, die zur Lösung der komplexen Herausforderungen einer Bevölkerungsentwicklung beitragen.
Was bleibt? Ein vorsichtiger Optimismus, denn das Potenzial Weißrusslands ist in vielen Hinsichten groß – eine zentrale Lage, die prächtige Natur und ein großes Humankapital mit guter Ausbildung können der Schlüssel zu einer robusten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Blüte Weißrusslands sein. Auch wenn das Land heutzutage etwas vernachlässigt aussieht, ist der Moment des Erwachens gekommen. Es ist Zeit, Belarus neu zu entdecken.
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