Belarus
Auf ins Unbekannte!
Geschichte Belarus
Die Anfänge der weißrussischen Staatlichkeit liegen im Norden des heutigen Weißrusslands, am Ufer des Flusses Polota, wo die Stadt Polozk entstand, die den Kern des Polozker Fürstentums bildete. In dieser Region siedeln im siebten und achten Jahrhundert mehrere slawische Stämme, darunter die Kriwitschen und die Drewljanen.
Aufgrund der verkehrsgünstigen Lage wird das Gebiet Teil der zu dieser Zeit bedeutendsten Handelsroute "von den Warägern zu den Griechen". Vermutlich gründen die durchziehenden Waräger hier einen Handelsposten, aus dem die Stadt entsteht.
Die erste Erwähnung Polozks finden wir in der "Erzählung der vergangenen Jahre", auch als "Nestorchronik" bekannt. Sie berichtet davon, dass 862 die Stadt, wie viele andere in diesem Gebiet, an einen von "Rjuriks Männern" (wie die Waräger, auch als Nordmänner oder Wikinger bekannt, umschrieben wurden), vergeben wird.
Exkurs: Nestorchronik
Die Nestorchronik, wie auch die Hypatius- Chronik, gehört zu den ersten historischen Aufzeichnungen Osteuropas, die uns heute zur Verfügung stehen. In ihnen werden zum Teil Ereignisse berichtet, die mehrere Jahrhunderte zurückliegen. Aus diesem Grund werden diese Aufzeichnungen heute recht kritisch betrachtet, denn viele Informationen sind historisch nicht belegbar, teils widersprüchlich und stellen oft eine Mischung aus Fakten und Phantasie dar, vor allem, je weiter das berichtete Ereignis in der Vergangenheit liegt.
Vom Handel der Wikinger profitierte die Stadt erheblich und dehnt ihren Einfluss in den umliegenden Gebieten deutlich aus. Das Territorium des Polozker Fürstentums umfasst in seinen besten Zeiten das heutige Witebsker Gebiet und den Nordteil des Minsker Gebiets und macht es für seine kriegerischen Nachbarn zu einem begehrten Ziel. Dies resultierte in zahlreichen militärischen Auseinandersetzungen mit den Kiewer und Nowgoroder Fürsten, was mehrmals zur Zerstörung der Stadt führte.
Ob Polozk nach diesen Waffengängen noch ein souveränes Fürstentum ist, unabhängig von der Kiewer Rus, ist nicht leicht zu beantworten. Einerseits, wie mehrere Überlieferungen aus alten Chroniken berichten, hat Polozk an zahlreichen Feldzügen zusammen mit Kiew teilgenommen (zu erwähnen sind, zum Beispiel, die Feldzüge von 882 und 907 mit dem Kiewer Fürst Oleg); andererseits beschränkte sich die Verbindung mit Kiew ausschließlich auf Militäraktionen, die Polozker Fürsten mussten der Rus keinen Tribut entrichten.
In den 980er Jahren erlebte das Fürstentum Polozk eine Zäsur. Als selbständiger Staat unter dem Fürst Rogwolod gerät es zunehmend zwischen die territorialen Ambitionen Nowgorods im Norden und Kiews im Süden. Um dazwischen weiter bestehen zu können, strebt Polozk eine Allianz mit einem der übermächtigen Nachbarn an. Eine Ehe von Rogwolods Tocher Rogneda mit einem der Fürsten könnte eine gute Lösung sein. Die junge Frau weist den Nowgoroder Fürsten Wladimir, Sohn des Kiewer Fürsten Swjatoslaws und einer Dienerin, mit den verächtlichen Worten ab, " Einer Sklavin Sohn will ich nicht entschuhen", und entscheidet sich für den Kiewer Fürst Jaropolk. Wladimir rächte sich in kurzer Zeit: er eroberte Polozk, tötete den Fürst und dessen Söhne, und nahm Rogneda gewaltsam zur Frau. Das Polozker Fürstentum gehörte nun zum Herrschaftsgebiet von Wladimir, der alsbald Kiew einnimmt und damit die Rus um Polozk und Nowgorod vergrößert.
Einige Jahre später nimmt die Geschichte eine überraschende Wende: Rogneda konnte Wladimir nie vergeben und versuchte einmal, ihn in der Nacht umzubringen. Dieses Attentat scheiterte und der Fürst wollte die Frau töten, doch Isjaslaw, ihr gemeinsamer Sohn, verteidigte seine Mutter. Deshalb (und wohl auch um die widerspenstigen Polozker Bojaren zu besänftigen) entschloss sich Wladimir, Rogneda zu begnadigen. Er ließ eine Stadt in der Nähe von Minsk erbauen, die nach seinem Sohn benannt wurde – Saslawl (Saslauje). Rogneda wurde dorthin ausgewiesen und verbrachte dort den Rest ihres Lebens. Isjaslaw bekam vom Vater die Polozker Gebiete. Damit wurde die Rogwolod-Dynastie der Polozker Fürsten fortgesetzt.
Die Blütezeit des Fürstentums fiel in die Zeit unter den Fürsten Brjatschislaw (1001-1044) und Wseslaw dem Zauberer (1044-1101), Isjaslaws Sohn und Enkel. Vor allem Wseslaw ist eine legendäre Figur in der weißrussischen Geschichte. Ihm wurden magische Fähigkeiten wie Tierverwandlung zugeschrieben, wie uns das Igorlied ("Lied von dem Heer Igors" — einem mittelalterlichen Epos der Kiewer Rus aus dem 12. Jahrhunderts) berichtet. In der Zeit seiner Regierung ließ er in Polozk eine Kathedrale zu Ehren der heiligen Sophia errichten, um damit die Ebenbürtigkeit des Fürstentums mit Kiew und Nowgorod zu behaupten, wo ebenso prächtige Kirchen im Namen der Heiligen Sofia errichtet worden waren.
Wseslaw führte zahlreiche Kriege, um neue Gebiete zu erobern und unter seine Gewalt zu bringen. So gelang es ihm, 1066 Nowgorod einzunehmen und zu plündern. Der damalige Nowgoroder Fürst Mstislaw musste fliehen und starb bald. Doch der Preis für den Feldzug war für Wseslaw hoch: drei Kiewer Fürsten, die Söhne Jaroslaws des Weisen, kamen 1067 mit einem großen Heer und belagerten Minsk. Als Wseslaw der Stadt zu Hilfe eilt, ist sie bereits zerstört. Im Igorlied finden wir eine sehr bildhafte Beschreibung der Schlacht am Fluss Nemiga, die am 3. März stattfand:
"An der Nemiga breiten sie Köpfe wie Garben aus, sie dreschen mit Dreschflegeln aus Stahl. Leben leben sie auf die Tenne, und wie die Kornschwinger tun, worfeln sie aus den Leiben die Seelen. Nicht mit Körnern waren an der Nemiga blutige Ufer besäet, ihre Saat waren die Gebeine russischer Söhne."
Nach der Schlacht wurde Wseslaw zu Verhandlungen eingeladen, zu denen die Söhne Jaroslaws ihm freies Geleit zusagten, doch ihren Schwur brachen und Wseslaw einsperrten. Später befreiten ihn die Kiewer und machten ihn zu ihrem Fürst. Er blieb aber nicht lang auf dem Thron, sondern wurde nach kurzer Zeit von Fürst Isjaslaw vertrieben. Dabei wurde auch Polozk eingenommen. Wseslaw musste lange dafür kämpfen, Polozk zurückzuerobern, was ihm 1071 endlich gelang.
Die kulturelle Blüte ist vor allem mit Wseslaws Enkelin verbunden, die in die Geschichte unter dem Namen Euphrosyne (Efrosinja) von Polozk eingegangen ist und deren Lebensgeschichte bis heute viele weißrussische Schriftsteller und Dichter inspiriert. Sie war die erste ostslawische Heilige und die berühmteste weißrussische Aufklärerin. Bereits als junges Mädchen hatte Predslawa – so hieß es vor der Nonnenweihe – eine Berufung verspürt, ihr Leben der Kirche zu widmen. Die fürstliche Familie war mit einer solchen Wahl nicht zufrieden, doch Predslawa blieb felsenfest und legte die Profess ab. Den Kontakt zu ihrer Familie brach sie aber nie ab; später folgten ihre Nichten auf dem gleichen Weg.
Zeit ihres Lebens beschäftigte sich Euphrosyne mit der kirchlichen Bildung und dem Abschreiben von Büchern. Außerdem gründete sie auch Kloster und stiftete mehrere Kirchenbauten. Der berühmteste ist die Polozker Erlöser- und Verklärungskathedrale (Spaso- Efrosinjewskaja- Kirche) aus dem 12. Jahrhundert, ein einzigartiges Denkmal der mittelalterlichen ostslawischen Architektur. Efrosinja förderte auch Ikonenmalerei und Schmuckhandwerk. So entstand auch das berühmte Kreuz von Efrosinja, eine Ikone, zu der auch heute noch jedes Jahr unzählige orthodoxe Pilger reisen, um sie anzubeten und andächtig zu küssen.
Exkurs: Das Kreuz von Euphrosyne
Efrosinja förderte auch Ikonenmalerei und Schmuckhandwerk. 1161 ließ sie den Meister Lasar Bogscha einn prächtiges Kreuz anfertigen, das als Monstranz diente. Im Laufe der Geschichte wurde es mehrmals eingezogen. 1928 übergab der damalige Direktor des Belarussischen Staatsmuseums Lastouski dieses Kreuz an das Museum in Mogilew (Mahiljou). Wie auch das berühmte Bernsteinszimmer in Zarskoje Selo ber Sankt Petersburg verschwand das Kreuz der Euphrosyne1941 nach dem Rückzug der sowjetischen Armee aus der Stadt und wurde nie wieder aufgefunden.
1997 entstand eine Kopie des Kreuzes, die heutzutage in Polozk aufbewahrt und ausgestellt wird.
Am Ende ihres Lebens pilgerte Euphrosyne nach Jerusalem, wo sie starb und begraben wurde. Ihre Gebeine wurden um 1187 nach Kiew transportiert. Erst 1910 erlaubte Zar Nikolaus II., sie nach Polozk zurückzubringen. Trotz aller weiteren Wirren der Geschichte sind die Gebeine heutzutage immer noch in Polozk und können besichtigt werden.
Wseslaw hinterließ seinen Söhnen das vergrößerte Fürstentum, das nach seinem Tod in einzelne Fürstentümer (darunter die Minsker und Witebsker) zerfiel, die unter seinen Söhnen aufgeteilt wurden. Diese Aufteilung mündete in Eifersüchteleien und Machtkämpfe zwischen den Teilfürsten, was wiederum die Aufmerksamkeit anderer benachbarten Fürstentümer weckte, die sich die Situation zunutze machten. So eroberte der Kiewer Fürst Mstislaw 1129 Polozk und wies die gesamte fürstliche Dynastie nach Byzanz aus, wo die verbannten Fürsten gegen Sarazenen kämpften mussten.
In dieser Periode ging die politische Verwaltung der heranwachsenden Städte vom Fürsten allmählich auf die Versammlung der Stadtbürger, die "Wetsche" über. Das war eine Versammlung erwachsener Männer, die über aktuelle Fragen diskutierten ("âåùàëè", wovon auch das Wort "Wetsche" kommt). Wessen Forderungen in der Diskssion am lautesten unterstützt wurde, dessen Entscheidung wurde zugestimmt. Die Wetsche entschied damals, wer zum Fürst ernannt oder auch vertrieben wurde. Die einzige Grundbedingung war, dass dieser aus der Rogwolod-Dynastie stammen sollte. Daher könnten wir mit einigen Vorbehalten bereits von einer Form der direkten Demokratie sprechen.
Im 13. Jahrhundert drängten die Kreuzritter immer näher: 1201 errichteten sie die Festung Riga, wo ein Jahr später der Schwertbrüderorden entstand, der ab 1237 Bestandteil des Deutschordenstaates wurde. Die Kreuzritter nahmen die Städte Kukenhusen (1208) und Gerzike (1209) ein, die im Machtbereich von Polozk lagen und setzten Polozk somit unter Druck. In dieser Situation suchte das Polozker Fürstentum erneut Verbündete und fand sie in Nowgorod. 1239 heiratete die Tochter des Polozker Fürstes Brjatschislaw den Nowgoroder Fürst Alexander Newski. Gemeinsam konnten markante Siege errungen werden (vor allem 1240 gegen Schweden und 1242 gegen die Kreuzritter).
Die äußere Gefahr ging jedoch nicht nur von den Kreuzrittern aus. Die Mongolen, die Goldene Horde, hatten nach ihrem Ansturm 1237-1242 große Gebiete der Rus unterworfen. Das war auch eine der entscheidendsten Faktoren bei der Gründung des Großfürstentum Litauens, dem sich das Polozker Fürstentum 1307 angliedert. So ging die Geschichte des unabhängigen Polozker Fürstentums langsam zu Ende, obwohl eine gewisse Autonomie innerhalb des als Föderation funktionierenden Staates noch einige Zeit lang bestand. Die Polozker Adelsgeschlechter blieben ziemlich einflussreich.
Die Territorien bildeten nun den Teil eines neuen Staates, dessen Existenzdauer später mit Recht als Goldene Zeit der weißrussischen Geschichte bezeichnet wird. Der kulturelle Erbe des Mittelalters lebte aber weiter und prägte die Kulturlandschaft des Landes über mehrere Jahrhunderte hinweg.
Exkurs: Turauer Fürstentum
Neben Polozk existierten zahlreiche kleinere Fürstentümer auf dem Gebiet des heutioge Weißrusslands. Die zweitgroße Macht nach dem Polozker Fürstentum war das Fürstentum Turow. Dazu gehörte großteils Gebiete des ostslawischen Stammes der Dregowitschen. Seit dem 10. Jahrhundert war das Fürstentum abhängig von Kiew und konnte sich erst in den fünfziger Jahren von dieser Abhängigkeit befreien. Jedoch zerfiel Turow bald in kleinere Teilfürstentümer Pinsk, Klezk, Sluzk und Dubrowiza, die dann überwiegend an Galizien-Wolhynien und Kiew gingen. Gegen 1320 wurde Turow ins Großfürstentum Litauen eingegliedert.
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