Estland
Eldorado für Kulturfans und Naturliebhaber
Land & Leute
Obwohl das Baltikum seit Jahrzehnten zu einem der beliebtesten Reiseziele gehört, birgt es noch immer ungeahnte Schätze - ganz besonders auf musikalischem Gebiet. Nur die wenigsten wissen, dass die Musik Geist und Seele in den drei baltischen Staaten wie keine andere Kunstform bestimmt. Kein Wunder also, dass im Jahr 2003 die UNESCO die Lieder- und Tanzfeste in Estland, Litauen und Lettland als Meisterwerke des immateriellen und mündlichen Menschheitserbes anerkannt hat - ein echtes Meisterwerk der Übertragung kultureller Werte durch Gesang, und das über Jahrhunderte hinweg. Dabei hat vor allem die sogenannte Daina in der Musik Estlands eine ganz bedeutende Rolle gespielt.
Die Daina existiert seit dem 11. Jahrhundert. Eine Daina ist in der Regel sehr kurz und weist nicht mehr als vier Zeilen auf. Sprachforscher interessieren sich immer mehr für dieses typisch baltische Liedgut, das nicht nur auf Estnisch, sondern auch auf Lettisch und Litauisch gesungen wird und in der Mythologie des gesamten Baltikums eine große Rolle spielt. Die Daina spiegelt dabei die ganzen Themen des menschlichen Lebens wieder, die von der Arbeit auf dem Feld bis hin zu Hochzeit, Tod und Geburt reichen. In der Daina taucht aber auch immer wieder die jahrhundertelange Unterdrückung und Fremdherrschaft als Motiv auf.
Die Tradition, Lieder wie die Daina auf Estnisch zu singen, geht weit zurück in die Zeit, als die meisten Menschen weder schreiben noch lesen konnten und Bücher hauptsächlich nur den Klöstern vorbehalten waren. Die sogenannten Reigenlieder - auf Estnisch ’Regilaulud’ genannt - wurden während der Christianisierung im Mittelalter dann mit geistlicher Musik ergänzt. Im Zuge der Reformation übersetzten schließlich Pastoren aus Deutschland die kirchlichen Werke oder verfassten gleich selbst Lieder auf Estnisch.
1828 trat dann im kleinen Dörfchen Laiuse der erste größere Männerchor in Estland auf. 1863 wurde der Gesangsverein Revalia gegründet, der in Ermangelung eines größeren Potpourris nicht nur auf Estnisch sang, sondern auch deutsche Lieder zum Vortrag brachte. Als Ursprung des Sängerfestes gilt ein Zusammentreffen mehrerer Chöre 1869 in Tartu. Im Laufe des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurde die Begeisterung für das estnische Volkslied dann immer größer, und im ganzen Land gründeten sich Chöre und Musikvereine, um die alte Tradition wieder aufleben zu lassen.
1988 zeigte sich dann, welche hohe symbolische Bedeutung und politische Sprengkraft das nur auf Estnisch gesungene Liedgut mittlerweile hatte: In Tallinn trafen sich Tausende Esten zum Sängerfest - ein aufsehenerregender und friedlicher Protest gegen das Regime der UDSSR. Im Focus standen dabei Volklieder, Gedichte und mythische Schilderungen - allesamt vorgetragen auf Estnisch und eine echte Provokation für die Russen vor Ort. Das Sängerfest zeigte der Welt, dass auch die Esten hinter dem Eisernen Vorhang endgültig genug von der fremden Besatzung hatten - unter dem Namen ’Singende Revolution’ ging das musikalische Fest in die Geschichtsbücher ein.
Zum Erfolgsgeheimnis der estnischen Volkslieder gehörte auch, dass die dem Finnischen ähnliche Sprache für viele Russen unverständlich war. Dabei gewannen schon simple Zeilen wie ’Das ganze Jahr sammelte ich Lieder, auf den Jani-Tag wartend. Nun ist der Jani-Tag gekommen, nun werden die Lieder gesungen." Denn die Sommersonnenwende heißt auf Estnisch Jani, und nicht nur in Estland ist die kürzeste Nacht des Jahres auch ein Symbol für Veränderung und Neuanfang.
1989 fiel in Berlin die Mauer, und 1991 schließlich erklärte sich Estland für unabhängig: Ein fulminanter Sieg der Freiheit, der nicht zuletzt auch durch die auf Estnisch vorgetragene Daina erzielt wurde. Und Lieder wie die Nationalhymne ’Mu isamaa, mu õnn ja rõõm’ - auf Deutsch ’Mein Vaterland, mein Glück, meine Freude’ konnten nun endlich wieder auf Estnisch vorgetragen werden. Heute ist das Sängerfest zwar auch eine Großveranstaltung mit mehreren hunderttausenden Mitwirkenden und Zuschauern aus aller Welt, jedoch vielmehr eine nationale Selbstvergewisserung der estnischen Nation mit intensiv pathetischen patriotischen Gefühlen.
Auf unserer Reise zum estnischen Sängerfest in Tallinn können Sie dieses einzigartige Spektakel hautnah miterleben und sich von den Emotionen der Esten verzaubern lassen.
Zu den bekanntesten Komponisten klassischer Werke zählt neben dem Komponisten Rudolf Tobias zweifelsohne Arvo Pärt. In seinem Werk widmet sich Arvo Pärt vor allem der geistlichen Musik, nach einer Schaffenskrise bereicherte er in den 1970er Jahren dann die Musikwelt mit einem ganz neuen Kompositionsverfahren, dem er den Namen Tintinnabuli gab. Tintinnabuli heißt auf Lateinisch Glöckchen. Typisch estnisch lässt sich Arvo Pärt dabei nicht nur vom mehrstimmigen Chorgesang seiner Heimat inspirieren, sondern erreicht durch eine Reduktion des Klangmaterials einen ganz minimalistischen Effekt. Und auch Veljo Tormis ist ein meisterhafter Komponist aus Estland, der sich in seiner Musik vor allem den landestypischen Chor- und Liedkompositionen widmet.
Klassische Musik kann von Kulturreisenden besonders zu den Operntagen Ende Juli auf Saaremaa genossen werden, wenn auf der Insel unzählige Konzerte und Aufführungen renommierter nationaler und internationaler Interpreten im Hof der Kurressaer Bischofsburg und an vielen kleinen Orten der estnischen Insel stattfinden.
Heute sind die estnischen Sängerfeste richtige Events und ein zentraler Bestandteil des öffentlichen Kulturlebens, die oft bis zu 30.000 Esten anziehen, um auf einer großen Freilichtbühne gemeinsam miteinander zu singen. Auch Esten, die längst seit Jahren im Ausland leben, reisen extra zum Sängerfest in die Heimat an. Und da jeder Einzelne gerne auf Estnisch Lieder der Volksmusik anstimmen möchte, stellt sich oft das Problem, dass es nicht genug Kapazitäten gibt und es daher auch nicht jeder auf die Bühne oder in einen der vielen Chöre schafft.
Mittlerweile findet das estnische Liederfest alle fünf Jahre in Tallinn statt, das nächste Mal ist es im Jahr 2019 wieder soweit. Dabei hat sich das Festival zu einer der größten Veranstaltungen für Laienchöre weltweit gemausert.
Auf der Tallinn Music Week präsentiert sich seit dem Jahr 2009 in jedem Frühling die ganze musikalische Bandbreite von estnischen Newcomern und zeitgenössischen Interpreten, die ihre Musik während des Festivals auf Estnisch vortragen. Im Sommer locken viele kleine, lokale Feste mit Gesang und Musik überall Schaulustige und Touristen nach Estland. Daneben hat sich eine sehr lebendige, international viel beachtete Jazzszene etabliert.
Hervorheben möchten wir dabei das Festival Jazzkaar, welches sich durch viele kleine Minifestivals über das ganze Jahr erstreckt und Jazzliebhabern zu jeder Jahreszeit musikalischen Hochgenuss verspricht. Daneben bieten andere Musikfestivals, darunter das Viljandi Folk Festival und das Birgitta Festival für Freunde alter klassischer Musik im historischen Ambiente des Klosters Sankt Birgitta, Einblicke in die Vielfalt estnischer Musis.
Einem größeren Publikum wurde unter anderem die junge Interpretin Iiris bekannt, die Estland bereits schon zweimal ziemlich erfolgreich beim Eurovision Song Contest vertrat. Auch die Folk-Rockband Svjata Vatra konnte mit ihrer Musik ein größeres Publikum für sich gewinnen. Und dank der russischsprachigen Minderheit im Land zählt mittlerweile auch Russen-Pop zu den musikalischen Besonderheiten eines Landes, in dem die Musik seit der Erfindung des traditionellen Volksliedes Daina die absolute Hauptrolle spielt.
https://www.youtube.com/watch?v=M_lc92Rq4j4
https://www.youtube.com/watch?v=JcRPLUZbOpc
https://www.youtube.com/watch?v=TzIZPZN5K60
https://www.youtube.com/watch?v=Au1qTmjeg8M
https://www.youtube.com/watch?v=UY5aRiPdurg
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